Contested Modernities

Contested Modernities

Postkoloniale Architektur und Identitätskonstruktion in Südostasien

Editorial
In der Moderne heimisch werden
Text: Anh-Linh Ngo

Architektur und Städtebau waren immer schon Instrumente der Identitätskonstruktion. Das gilt nicht nur für die Rekonstruktion verlorener historischer Bauten und Stadtensembles, wie sie derzeit als rechtsgerichtete Projekte in Europa realisiert werden. Es gilt auch in besonderer Weise für die Epoche der Moderne. Die Imagination einer heilen Vergangenheit und der Entwurf einer besseren Zukunft sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf diesen politischen Zusammenhang weist die vorliegende Ausgabe zur Architekturmoderne in Kambodscha, Indonesien, Myanmar und Singapur hin, die als Ausdruck des Ringens dieser Gesellschaften um eine postkoloniale Zukunft diskutiert wird.
Dieser politische Betrachtungswinkel hebt sie aus einer rein architekturhistorischen Betrachtung heraus und greift in den aktuellen Diskurs ein. Die Relevanz dieses Heftes besteht nämlich darin, dass es uns in den Begegnungen mit der südostasiatischen Moderne daran erinnert, wie eng Architektur und Ideologie miteinander verwoben sind, im Guten wie im Schlechten. Im Schlechten, weil die Moderne von Machthabern unterschiedlichster Couleur top-down benutzt wurde, um ihre nationalistischen Interessen durchzusetzen. Im Guten, weil sich mit den Zukunftsentwürfen stets auch eine progressive Vorstellung von Gesellschaft verband. Im Kontext des Siegeszuges des entpolitisierten Internationalen Stils nach dem Zweiten Weltkrieg ist es eine aufregende Entdeckung, wie stark die Moderne in Südostasien politisch aufgeladen war.
Doch Architektur allein aus dem Blickwinkel des ideologischen Überbaus zu betrachten, würde bedeuten, den entscheidenden Aspekt ihrer Wirkmacht zu übersehen. Es hieße, wie der indonesische Kurator Setiadi Sopandi in dieser Ausgabe treffend bemerkt, dass man „die Komplexität der Architektur auf eine bloße Repräsentationsfunktion reduziert“. Unter allen menschlichen Kulturerzeugnissen sticht die Architektur insofern hervor, als sie Über- und Unterbau zugleich ist, wie der marxistische Architekturtheoretiker Douglas Spencer in ARCH+ 231 The Property Issue betont hat (S. 174). Denn sie prägt nicht nur als gesellschaftliches Narrativ unser Denken, sondern greift auch als Unterbau, als materielle Grundlage unseres Alltagslebens, in die Le­bens­realität der Menschen ein, die in ihr leben und arbeiten. Aufgrund dieses dualen Charakters ist sie in der Lage, nicht nur Ideologien, sondern auch kulturelle Grenzen zu transzendieren. Die originären Ausprägungen, Interpretationen und Aneignungen der Moderne in Kambodscha, Indonesien, Myanmar und Singapur, die in dieser Ausgabe vorgestellt und kritisch diskutiert werden, verdeutlichen diesen Spagat eindrücklich.
Und schließlich erinnert die Auseinandersetzung mit der südostasiatischen Moderne uns daran, dass die moderne Bewegung keine exklusiv westliche Entwicklung war, sondern vielstimmig und vielschichtig, global eingebunden. Es geht hier jedoch nicht um die kulturelle Aneignung stilistischer Merkmale allein, sondern vielmehr um die Aneignungsoffenheit der Moderne für die Lebensweisen der Nutzer­*innen und Bewohner*innen an sich. Erst wenn sie bottom-up, von unten im Gebrauch das Leben der Menschen bereichert, wird Architektur lokal wirkmächtig. Diese – gar nicht so neue – Einsicht macht auch klar, welche Aufgabe uns immer noch bevorsteht: die Spannung zwischen universalistischen Ansprüchen und spezifischen gesellschaftlichen Kontexten zu balancieren. Erst dann können wir in der Moderne heimisch werden.

P.S.: Während wir die Ausgabe fertigstellen, werden die demokratischen Proteste in Myanmar durch das Militär brutal niedergeschlagen. Der Kampf für eine emanzipatorische Zukunft dauert an. Indem wir mit dem Ringen um eine lokale Moderne eine bisher kaum bekannte Seite des Landes vorstellen, bringen wir unseren Respekt und Solidarität mit den Menschen in Myanmar zum Ausdruck.

Dank
Diese Ausgabe verdankt sich der Pionierarbeit des Projekts Encounters with Southeast Asian Modernism von Sally Below, Moritz Henning, Christian Hiller und Eduard Kögel, die es 2019 initiiert und kuratiert haben, um im Rahmen des Bauhausjubiläums die Vielstimmigkeit in der Rezeption und die Gleichrangigkeit der unterschiedlichen Perspektiven der Moderne(n) in Südostasien zu untersuchen. Für die fruchtbare Zusammenarbeit im Rahmen der Gastredaktion möchte ich ihnen ebenso wie allen Beitragenden herzlich danken. Ein großer Dank gilt auch dem Team von ARCH+ für die Übersetzung dieses Wissenskorpus in eine außergewöhnliche Ausgabe, allen voran Mirko Gatti (Projektleiter), Nora Dünser (CvD), Max Kaldenhoff (Kreativleitung), Melissa Koch (Redaktion) sowie Julius Grambow und Leonie Hartung (Redaktions­assistenz).

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Die Publikation Contested Modernities - Postkoloniale Architektur und Identitätskonstruktion in Südostasien von ist bei Arch+ erschienen. Die Publikation ist mit folgenden Schlagwörtern verschlagwortet: Architektur, Architekturgeschichte, Identitaet, indonesien, Kambodscha, Moderne, Myanmar, Nationenbildung, Postkolonialismus, Singapur, Suedostasien. Weitere Bücher, Themenseiten, Autoren und Verlage finden Sie hier: https://buchfindr.de/sitemap_index.xml . Auf Buch FindR finden Sie eine umfassendsten Bücher und Publikationlisten im Internet. Sie können die Bücher und Publikationen direkt bestellen. Ferner bieten wir ein umfassendes Verzeichnis aller Verlagsanschriften inkl. Email und Telefonnummer und Adressen. Die Publikation kostet in Deutschland 24 EUR und in Österreich 24 EUR Für Informationen zum Angebot von Buch FindR nehmen Sie gerne mit uns Kontakt auf!