Berlin Praxis

Berlin Praxis

Von Handlungsoptionen und politischer Verantwortung

Editorial
BERLIN PRAXIS
VON HANDLUNGSOPTIONEN UND POLITISCHER VERANTWORTUNG
Anh-Linh Ngo

Dieses Heft ist die zweite unserer beiden Berlin-Ausgaben, die wir im Nachgang zu unserer Ausstellung 1989–2019: Politik des Raums im Neuen Berlin herausgeben. Berlin Theorie hat eingehend die Stadtentwicklungspolitik seit der Wende untersucht und insbesondere den Zusammenhang der Neomythen Geschichte, Markt und Kreativität im Dienste des privaten Immobilienmarktes aufgezeigt. In dieser Ausgabe geht es nun vor allem um das gegenwärtige Bauen in und um Berlin. Wenn man so will, hat die erste Ausgabe von den verlorenen Kämpfen der Vergangenheit, etwa der massenhaften Privatisierung kommunaler Liegenschaften gehandelt. Aus diesen Fehlern müssen Schlüsse für heute gezogen werden. Dazu gehört eine Neuausrichtung der Bodenpolitik, wie sie sich im kommunalen Berliner Bodenfonds und der Stadtbodenstiftung niederschlägt.
Dieses Heft fragt nun danach, wie praktizierende Architekt*innen wieder mehr Handlungsoptionen gewinnen können. Wir behandeln deshalb drei zentrale Aspekte, die zu einer neuen Berliner Praxis führen: die Ökonomie des Bauens angesichts des überhitzten Immobilienmarktes, die Entdeckung der Peripherie vor dem Hintergrund der Verknappung von Bauland in der Stadt, und die unter Planungsbüros wie bei der Kritik immer noch ungeliebte und missverstandene Frage der Partizipation.
An letzterer ließ Ursula Baus erst kürzlich in einer Kolumne auf marlowes.de kaum ein gutes Haar: „Partizipation, Teilhabe – in allem und jedem soll heutzutage der/die BürgerIn mitmachen, als habe er/ sie sonst nichts zu tun. Dabei kann gerade beim Bauen die Öffentliche Hand nicht auf Vernunft und Gestaltungsverständnis des/der Einzelnen hoffen und muss mit Festsetzungen und Vorschriften dem individuellen Drang Einhalt gebieten.“01 Doch scheint in einer solchen Wertung nicht ein altertümliches, paternalistisches Verständnis von Planung durch, wonach diese dazu da sei, den Willen einer technokratischen oder ökonomischen Expertokratie gegen unverständige Bürger*innen durchzusetzen? Partizipation, so Baus’ Argumentation, öffne dem Wildwuchs individueller ästhetischer Vorlieben Tor und Tür. Die Beispiele in dieser Ausgabe zeigen jedoch, dass Partizipation viel Gutes bewirken kann – wenn sie früher ansetzt und als politischen Prozess verstanden wird, in dem die Bürgerschaft aushandelt, in was für einer Stadt sie leben will. Ein Bebauungsplan ist dann kein hoheitliches Instrument mehr, das dazu dient, individuellen Neigungen „Einhalt zu gebieten“, sondern spiegelt ganz im Gegenteil die Wünsche der Gesellschaft wider. Gerade angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung müssen die Planungsdisziplinen darauf insistieren, dass sie über geeignete Instrumente verfügen: Instrumente, die nicht nur die Aushandlung von Kompromissen ermöglichen, sondern mit denen sich eine Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft entwickeln lässt. Planung wird so verstanden zu einem zentralen Prozess politischer Teilhabe. Planende verlieren nicht ihre Bedeutung, sondern wechseln nur ihre Rollen in unterschiedlichen Phasen. Ein entsprechendes Verständnis von Praxis pflegen etwa Guerilla Architects, die wir bereits in der Ausgabe Berlin Theorie ausführlich präsentiert haben. In dieser Ausgabe stellen nun weitere Büros ihre Ansätze anhand konkreter Projekte vor – ConstructLab, raumlaborberlin und SMAQ.
Vor genau 10 Jahren haben wir unsere letzte Berlin-Ausgabe herausgegeben. Damals ging es noch um die Frage, wie die noch zur Verfügung stehenden Freiräume genutzt werden könnten. Das Rohe und Unfertige stand im Vordergrund. Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute gibt es kaum noch Möglichkeiten, in der Stadt als ambitioniertes Büro zu agieren. Die Bodenspekulation hat dazu geführt, dass jeder Quadratzentimeter ökonomisch ausgequetscht wird und die Spielräume für architektonische Experimente dementsprechend geschrumpft sind. In dieser Situation hat sich die Rolle der Architekt*innen fundamental gewandelt. Sie sind gezwungen, selbst immer mehr Verantwortung zu übernehmen, um die architektonische Qualität zu sichern. Heide & von Beckerath treten als Generalplaner für ein kommunales Wohnbauprojekt auf, orange architekten agieren seit 20 Jahren als Planer, Bauherr und Bauträger in Personalunion, auch FAR frohn&rojas mussten sich als Entwickler und Bauherr betätigen, um ihre Vorstellungen vom kostengünstigen Bauen zu verwirklichen. Die Bodenspekulation hat die Phase der kleinteiligen, selbstinitiierten Projekte, die Berlin als Architekturstandort in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten geprägt haben, mindestens vorläufig zu einem Ende gebracht. Nun kommt es unter anderem darauf an, wie die kommunalen Bauträger die brachliegenden Potentiale ausschöpfen. Sie haben es in der Hand, alternative Planungsansätze und experimentelle Architekturmodelle zu ermöglichen. Da die Öffentliche Hand nach den massiven Privatisierungen der Vergangenheit nun einen Bodenvorrat aufbauen möchte, haben sich nämlich die Machtverhältnisse zu Gunsten der kommunalen Bauträger verschoben, die bei der Versorgung mit Bauland bevorzugt behandelt werden. Das Beispiel Heide & von Beckerath zeigt, dass eine qualitätsvolle Architektur auch heute im öffentlichen Wohnungsbau möglich ist, wenn alle Seiten bereit sind, dazuzulernen. Es gilt, die kreativen Potentiale der Akteure aufzugreifen. Diese entwickeln häufig unter Einsatz erheblicher persönlicher Risiken zukunftsweisende Modelle, so etwa FAR frohn&rojas. Solche Ansätze müssen aufgegriffen und in einen größeren Maßstab übertragen werden, ohne dass dies an der Bürokratie, am Vergaberecht oder an der reinen Marktlogik scheitert.
Der angespannte Immobilienmarkt und die Bodenspekulation treiben immer mehr junge Büros in das Berliner Umland. Sie folgen einer Bauherrschaft, die ebenfalls in der Stadt keine Chancen mehr vorfindet. Exemplarisch stellen wir vier Praxen vor, die aus der Not eine Tugend gemacht haben: FAKT nutzen ihre Lehre, um sich mit den Regeln der Peripherie auseinanderzusetzen und Gesetzmäßigkeiten für ihre Praxis zu extrahieren. c/o now setzen neue Wohn- und Arbeitsmodelle typologisch um. Peter Grundmann ermöglichen die Freiräume auf dem Land eine experimentelle Praxis, die er seit über zwei Jahrzehnten verfolgt. Erst das Arbeiten an und aus der Peripherie erlaubt es ihm, mehr Komplexität in der Architektur umzusetzen. Aus noch einem anderen Grund bildet Grundmanns Werk eine Referenz für die jüngere Generation: Er führt seine Projekte stets selbst aus, um nicht nur eine andere Ästhetik zu erzielen, sondern auch eine andere Ökonomie des Bauens umzusetzen. Auch Atelier Fanelsa sucht in diesem Sinne auf dem Land den handwerklichen Aspekt des Bauens zu stärken. Es geht dabei jedoch nicht nur um die Kontrolle über die architektonische Qualität, sondern um eine Suche nach neuen Lebensmodellen, die mehr Handlungsmacht für den Einzelnen und für die Gemeinschaft bedeuten. Dies beginnt mit kleinteiliger politischer Arbeit vor Ort, um den Kommunen zu zeigen, welche Handlungsoptionen sie eigentlich besitzen. Die in dieser Ausgabe diskutierten Praxen eint die Einsicht, dass politisches Handeln zunächst einen Moduswechsel braucht, um aus machtlosen Konsument*innen aktive Produzent*innen zu machen. Der vernachlässigte ländliche Raum eignet sich insofern gut als Case Study, weil der Mangel an Angeboten für ein alternatives Leben uns dazu zwingt, die Produktion des eigenen Lebensumfeldes selbst in die Hand zu nehmen. Diesen Ansatz gilt es, auch für die Stadt zu erschließen. Schließlich hat die Corona-Krise deutlich vor Augen geführt, dass es in Zukunft darum gehen wird, den Lebenszusammenhang von Wohnen und Arbeiten oder allgemeiner das Produktivsein neu zu denken – ganz gleich ob in der Stadt oder auf dem Land.

01 Ursula Baus: „Planlos nach Plan“, in: Marlowes, 8.12.2020, www.marlowes.de/ bebauungsplaene (Stand: 4.1.2021)

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