Zukunft atmen von Grientrog,  Bettina, Schon,  Jenny

Zukunft atmen

Lyrik

Als ich mit diesem Gedichtband begann, waren wir auf dem Winterhöhepunkt des ersten Jahres von Corona. Wir haben seitdem eine neue Zeitrechnung, im ersten Jahr von Corona, im zweiten …
Joe Biden war Präsident geworden. Er war 78 Jahre alt und hatte die Zukunft vor sich. Ich bin ja auch achtundsiebzig, durchzuckte es mich. Warum denke ich immer nur an die Vergangenheit, ich hab ja Zukunft. Die Vergangenheit ist Teil der Zukunft, über die hab ich mir aber noch nicht so viele Gedanken gemacht, außer, dass ich früher, wenn ich was be-gann, wie zum Beispiel die Lehre, die Abendschule oder das Studium, es zu Ende bringen wollte, also das Resultat meines Fleißes die Zukunft war.
So stelle ich mir jetzt nicht mehr die Zukunft vor. Die Zukunft ist kurzfristig geworden. Mag auch Joe Biden ein Leben lang darauf hingearbeitet haben, einmal Präsident zu werden, ich hab in Etappen auf meine Zukunft hingearbeitet; Volksschulabschluss, na klar, den schaffe ich, Lehre, ein Klacks, da war kein Abitur vorgesehen, das kam erst später auf dem Zweiten Bildungsweg, unter Magister konnte ich mir wenig vorstellen, machte ich dann aber irgendwann, den Doktortitel hätte ich gerne erworben, dachte, den kann ich immer noch machen, doch damit wurde nichts und wird nichts. Zukunft hat durch Corona eine andere Dimension erlangt, selbst zwei Jahre haben eine andere Wertigkeit als vorher. Ich hab die Sorgen der Schüler und Studenten vernommen, was zwei Jahre für sie in den jungen Jahren bedeutet.
Diese zwei Jahre bilde ich hier in meinen Gedichten ab, die in meiner Umgebung und in der Welt verflos-sen sind mit ihrem Ab und Auf, Entsetzen und Hoffnung, von einem Tag auf den anderen andere Zahlen, andere Prognosen, andere Hoffnungen.
Der Stille und Entschleunigung der ersten Zeit im Lockdown, diesem Hinter-den-Zeitläuften-Sein, dieser feinen Art der Wahrnehmung hat sich wieder und vielmehr, scheint’s, als vorher, die Hektik und das Ellenbogen-Ausbreiten entgegen gesetzt. Obwohl die Corona-Zahlen im Mai 2022 noch hoch sind, viel höher als in der ersten Zeit der Seuche, sieht es überall so aus, als sei nichts geschehen, als gäbe es Corona nicht. Nein, etwas ist verändert, die FFP2-Maske. Es gibt doch noch viele, die ohne Zwang in Geschäften und andernorts die Maske aufhaben, die gab es im Frühjahr 2020 nicht. Damals war alles Maske, was vor Mund und Nase passte. Und noch was hat sich geändert, die Autos, sie sind mehr und größer geworden. Alles durch Corona-Beschränkungen Eingesparte scheint in diese spritfressenden SUV-Monster (Sport Utility Vehicle) geflossen zu sein. Auch die Wohnmobile haben starken Absatz. Man verschanzt sich hinter dem mächtigen Lenkrad und begibt sich in sein Reich, mit dem man notfalls flüchten kann. Aber auch die Zahl der Fahrräder hat sich verdoppelt, besonders der Lastenräder. Der Mensch begreift, dass er mit eigener Muskelkraft auch schon was bewegen kann.
Und was noch?
Es ist Krieg in Europa. Krieg, sagt sich so einfach, stündlich in den Medien präsent, und wenn Krieg ist, wird alles teurer. Besonders die Armen sind betroffen. Und wie bei Corona spaltet sich das Land in Waffenbefürworter und Waffengegner, wie just Masken- bzw. Impf-Befürworter und -Gegner.
Mutter Erde ist von Tag zu Tag gefährdeter, die Menschheit geht ihr an den Kragen, die Luft wird schlechter, die Innereien werden zerfressen vom radikalen Abbau der Ressourcen, ihre Venen vertrocknen, wir verschwenden das Wasser … verzweifelt spare ich Wasser, versuche Abfall zu vermeiden, benutze kein Handy und kaum Batterien, und gehe viel zu Fuß…ob es helfen kann? Natürlich hoffe ich, dass es helfen kann, wenn viele es machen, natürlich hoffe ich, dass wir, dass unsere Kindeskinder eine Zukunft haben, natürlich können wir jetzt und heute Zukunft atmen…

Das sind alles Gedanken, die einen anfallen, wenn man so alleine vor dem angsteinflößenden berüchtigten weißen Blatt sitzt und auf die Buchstabentasten stiert. Es sind Überlebensgedanken. Corona ist aber nur eine der Plagen, die uns alte Schriften weissagten. Gegen Corona gibt es nun effektive Impfungen, die aber immer wieder erneuert werden müssen, wie wir im Laufe der Coronajahre gelernt haben. Kriege werden meistens irgendwann beendet, das Wie ist das Fragezeichen, was aber nicht auszurotten scheint, ist die alte Plage Patriarchat. Sie wütet wie-der als offizielle Staatsform in Afghanistan, man scheint ihr mit Mitteln wie Menschenwürde und Gleichwertigkeit nicht beizukommen, jede Schwäche ausnutzend sind diese Männer zur Stelle, ihr Terrorregime weiter auszubauen, sie werden von anderen patriarchalen Regimen unterstützt. Die Unterstützung, die wir dort gewährt haben, hat vor allem nicht die Frauen auf Dauer geschützt. Der Krieg in der Uk-raine lässt vergessen, dass die Afghaninnen wieder in das Gefängnis Burqa und Dummheit eingesperrt werden.
Die Umweltkatastrophen, die schon viele Länder durchmachen, wo steigender Meeresspiegel Landun-ter bedeutet, oder brennende Wälder auch Häuser vernichten, sind auch bei uns angekommen.- Landunter war im Sommer 2021 auch vor meiner rheinischen Haustür, es scheint sich 2022 fortzusetzen, es sind diesmal Tornados, die Sorge bereiten. Ein neuer Virus ist ebenfalls im Anmarsch: das Affenpocken-Virus.
Die Bilder vom letzten Jahr sind Vergangenheit, von den in den Fluten entschwindenden Häuser schon vergessen und der Weinschoppen am Abend nach getaner Arbeit schmeckt wie eh und jeh. Da werden kaum die Bilder beschworen, wie in der lehmigen Brühe Autos ebenso vermatscht wurden wie Bücher und Akten und sich durch die engen Gassen quetsch-ten … wem werden sich die Bilder von den bersten-den Türmen in New York aufdrängen, wenn er bei seinen wieder erlaubten Reisen in den engen Straßen gen Himmel blickt? Das ist zwanzig Jahre her und hieß Epochenwandel der Menschheitsgeschichte. Die Erinnerung schwindet, neue Grausamkeiten verdrängen das Alte.
Conditio humana – Der Mensch kann vergessen, will überleben, in meinen Gedichten habe ich Zeitgeschichte festgehalten…
Es ist tatsächlich Krieg ausgebrochen in Europa – wie zum Anfang meiner Geburt vor achtzig Jahren wird in Europa geschossen aus herrschaftslüsternen Gründen, Gebietsklau, die Menschen, die da leben, zählen nicht. Es werden Waffen exportiert, auch von Deutschland, und wieder mal wie bei dem Jugoslawienkrieg vor dreißig Jahren ist eine grün-soziale Regierung an der Macht.
Ich war das erste Mal seit Jahrzehnten wieder bei einem Ostermarsch dabei. Es wird von Zeitenwende gesprochen, Waffen sind wieder gefragt, schwere Waffen.
Ich bin fassungslos, dass Brot als Waffe eingesetzt wird – wie in alten Zeiten. Esst Kuchen, wenn ihr Hunger habt, war der zynische Spruch im Feudalismus.
Nicht nur beim Lockdown in China zeigte sich, wie weltabhängig wir alle sind. Auf einmal waren alltägliche Medikamente und Masken nicht verfügbar. Jetzt zeigt sich die Globalisierung in den fehlenden Weizenlieferungen aus der Ukraine, die von Russland behindert werden. Hungersnöte in Afrika sind die Folge.
Trotzdem bin ich gegen die Lieferung von schwerem Kriegsgerät in die Ukraine, überall hin! Ich bin – so wird es heutzutage genannt – ein Sentimentalpazifist!
Wie viele Millionen könnten satt werden, wenn die Milliarden, die in den Rüstungsetat fließen, für Brot ausgegeben werden würden.
Man muss aber auch jenen Russen helfen, die nichts dafür können. Einer Freundin, die einen russischen Namen hat, aber keine Russin ist, wurde das Namensschild und der Briefkasten zertrümmert. Immer wieder diese unsäglichen Ausgrenzungen …

Wenn aber so viel, wenn nicht alles, miteinander zusammenhängt, ist vielleicht der alte Spruch der Chi-nesen doch wahr:
Ein Schmetterlingsflügelschlag in China kann ein Erdbeben in Chile auslösen … und auch Khalil Gibrons Spruch bleibt Wahrheit: Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters und ich möchte trotz allem träumen und bleibe bei dem Titel für mein Buch: Zukunft atmen …
Jenny Schon

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