journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
Editorial Gestern habe sie eine Gurkensuppe gekocht, sagt meine Friseurin. Ich sitze ziemlich abwesend, ohne Brille, mit Mundschutz und feuchten Haaren vor dem großen Spiegel in ihrem Salon und bin sofort hellwach. Sylvie kam vor drei Jahrzehnten als Teenager mit ihrer Mutter – auch sie Friseurmeisterin – aus Polen nach Deutschland. Ab und an erzählen wir uns von unseren kulinarischen Erfahrungen. Sylvie und vor allem ihre Verwandtschaft im ländlichen Polen sind tief und fest verwurzelt in regionalen oder besser sogar lokalen Küchentraditionen. Der eigene Garten und ein schlachtender Metzger in der Familie scheinen dafür ernst zu nehmende Garanten. Aus dieser polnischen Perspektive blickt Sylvie mit ordentlicher Skepsis auf das hier von der Lebensmittelindustrie Produzierte und sucht es, soweit möglich, zu meiden. Sie er-zählte irgendwann einmal anschaulich von ihrer mittlerweile hochbetagten Oma: Die filigrane Person kommt auf dem Bahnsteig in Münster an und wuchtet Koffer mit ordentlichem Fleisch und selbst eingelegten oder eingekochten Lebensmitteln aus dem Zug, deren Gewicht ihr eigenes Körpergewicht über-treffen. Oma reist nicht mehr. Gestern also Gurkensuppe. Spontan sage ich, was mir durch den Kopf schießt: eingelegte Gurken. Genauer: milchsauer fermentierte Gurken, keine Essiggurken. Jetzt zögert Sylvie den Bruchteil einer Sekunde, wie um sich erst erinnern zu müssen, dass es überhaupt in Essig eingelegte Gurken gibt. Und sagt dann lächelnd: Na klar. Später huscht ihr sogar ein nahezu verträumter Ausdruck durchs Gesicht in Erinnerung an gerade eingelegte, erst zwei Tage fermentierte Gurken mit ihrem überaus feinen, zarten Aroma und britzelnden Geschmack. Wir sprechen im Verlauf der Scherung gar nicht mehr über die Suppe, sondern über das Einlegen oder milchsaure Vergären von Gemüse (wobei die unerträgliche Süße deutscher Essiggurken echte Entrüstung hervorrief). Naheliegender Weise stelle ich die Frage, ob auch Getreide fermentiert worden sei. Es wurde. Mit fermentiertem Roggenschrot wurde Zurek, eine einfache Suppe aus Kartoffeln und Wursteinlage, gebunden. In »Zurek« klingt »sauer« auch für uns noch an. Sylvie erwähnt beiläufig, als sie mir gerade den Spiegel zur abschließenden Begutachtung ihres Werks reicht, dass dieser Sauerteig auch zum Brotbacken verwendet wurde. Nicht zum ersten Mal bedauere ich mein schütter werdendes Haupthaar und beginne, mich auf den nächsten Termin zu freuen. »Brot backen« war der Fokus im Journal Culinaire No. 15, vor immerhin acht Jahren. Es findet bis heute beständig neue Leser. Zahlreiche Anfragen erreichten die Redaktion, wann sich das Journal Culinaire endlich erneut mit dem Thema beschäftigen werde – wohl wissend, dass wir den Fermentationsthemen immer schon sehr aufmerksam gegenüberstehen. Die Zeichen für eine Sauerteigausgabe verdichteten sich zügig. Bei dieser Gelegenheit sei der Gesellschaft Deutscher Lebensmitteltechno-logen (GDL e.V.) ausdrücklich gedankt. Sie hat uns die Teilnahme (nicht nur) an ihren Sauerteigforen in Münster und Minden großzügig ermöglicht. In zahlreichen Fachvorträgen und durch den persönlichen Kontakt zu Forschenden ebenso wie Bäckerinnen und Bäckern nahm das Thema Konturen an. Mein großer Dank gilt Dr. Markus J. Brandt. Er war von den ersten Überlegungen an für eine Sauerteigausgabe involviert und hat wichtige Impulse bei der inhaltlichen Ausgestaltung gegeben – über seine eigenen Beiträge hinaus. Mit dem Freibäcker Arnd Erbel konnte ich vertrauensvoll auf die Suche nach beitragenden Bäckerinnen und Bäckern gehen. Auch ihm sei herzlich für Vertrauen wie Gespräch gedankt, ebenso allen Beitragenden, die ihr Wissen bereitwillig und engagiert ausgebreitet haben. Das Journal Culinaire No. 31 »Sauerteige« ist wiederum nur ein Anfang. Es lässt sich noch so viel mehr über Sauerteige berichten und diskutieren; mit Sicherheit wird in Bälde mehr im Journal Culinaire zu lesen sein. Eine persönliche Bemerkung zum Abschluss. Vor gerade fünfzehn Jahren lernte ich Ursula Hudson kennen, die auf ihre zahlreichen Reisen immer einen Sauerteig mitnahm. Sie hatte Jahre zuvor, als ihr ein schon damals betagter Sauerteig aus einer privaten Tradition angetragen wurde, schnell verstanden, dass in ihm das Potenzial nicht nur für ihre eigene Ernährungskompetenz schlummert. Ihre Erfahrungen mit ihrem Sauerteig hätte ich gerne für das Journal Culinaire gesichert. Das ist nicht gelungen. Ursula ist im Juli nach langer, bewundernswert getragener Krankheit gestorben. Ich werde mehr als nur ihre Sauerteig-Erzählung auf Dauer schmerzlich vermissen. Halten Sie es mit dem Journal-Culinaire-Lesen wie mit einem vitalen Sauerteig: Frischen Sie Ihren Lesegenuss zur passenden Zeit an.
Aktualisiert: 2021-01-28
> findR *

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
Die Natur im Jahr 2020. Das Frühjahr bescherte uns Regen. Langen, ergiebigen Regen, der die Stauseen und Trinkwassertalsperren füllte und den nach zwei heißen Jahren erschreckend niedrigen Grundwasserständen Erholung brachte. Und es gab Wind, unglaublich intensive, nicht enden wollende Phasen von mächtigen Böen. Jetzt, eine Woche vor Ostern, nach einigen der kältesten Nächte des gesamten Winters, die die jungen Hortensientriebe zu raschelnden Teeblättern gefriertrocknen ließen, bricht sich die Vegetation kraftvoll Bahn. Die Obstbäume erscheinen in ihrer Blüte so weiß wie im ganzen schneelosen Winter nicht. In den Wäldern leuchten Teppiche von Buschwindröschen. Vereinzelt steht schon Wiesenschaumkraut an den Feldrainen. Überall der süße Duft knospender Buchen in der milden Luft, die kleinen lapschigen Händchen der Kastanienblätter flattern hellgrün in sanfter Brise. Während die Natur verlässlich und beharrlich ihren Zyklen folgt, ist das Leben der Menschen von einer Pandemie bedroht und dominiert. Die verordneten massiven Einschränkungen im öffentlichen Leben stellen die Zukunft vieler Betriebe und Existenzen infrage. Sie ziehen weitreichende Folgen im privaten und sozialen Zusammenhalt mit und nach sich, tägliche Routinen ebenso betreffend wie langfristige Lebensplanungen. Nicht nur wegen der Unsichtbarkeit des Erregers und der langen Inkubationszeit kann der Einzelne nur schwer das Risiko einschätzen, dem er alltäglich ausgesetzt ist oder sich bewusst aussetzt. Eigentlich sehen wir uns mit solchen Fragen alltäglich und dauernd konfrontiert. Doch die meisten Risiken für unser erhofft langes und gesundes Leben haben wir im Laufe der Jahre in den Alltag integriert, um nicht zu sagen: hineinverdrängt. Die Gefahren der täglichen und Urlaubs-Mobilität, die Unwägbarkeiten mancher Sportaktivitäten, die Fülle der bakteriellen und viralen Krankheiten, der sich die Menschheit ohnehin ausgesetzt sieht, die zunehmende Resistenz von Keimen gegen Medikamente – und nicht zuletzt die realen Gefahren, die beim Verzehr vieler Genuss- und Lebensmittel (auch, trotz und wegen der industriellen Lebensmittelproduktion) akzeptiert werden. Das muss nicht immer so spektakulär geraten wie beim japanischen Kugelfisch oder bei bewusstseinserweiternden Pilzen. Rohwurst und Rohschinken, Rotschmiere und andere Hefen und Pilze beim Käse; viele andere Beispiele auf der Schwelle zwischen Haltbarmachung und Geschmacksgewinn sind potenziell heikel. Dass wir diese Dinge recht entspannt in unser Leben einlassen, liegt an durchaus richtigen (oder gelegentlich auch irrigen, aber folgenlosen) Einschätzungen der von ihnen ausgehenden Gefahren. Wie wir uns entscheiden, hängt von vielen Faktoren ab und geht nicht selten ebenso von problematischen Annahmen aus wie von einer geschönten Sicht auf die Folgen. Das wird uns in Bezug auf Covid-19 gerade auf harte Weise schmerzlich bewusst. Ein pragmatischer, routinierter Weg zu einem auch langfristig sachgerechten Umgang mit dem Virus wird Geduld und Zeit erfordern. Und die Folgen sind in ihrem Ausmaß überhaupt noch nicht zu überblicken. Bislang hatte das Journal Culinaire nur für zwei Themenfelder gleich zwei Ausgaben benötigt: Kakao und Eier. Beide haben sich als überaus ertragreich erwiesen. In der nun vorliegenden Ausgabe No. 30 »Bier trinken« hat das Journal Culinaire zusammen mit der No. 29 »Bier brauen« nicht weniger als zwanzig Beiträge versammelt, in denen sich Wissen und kulturelles wie wissenschaftliches Engagement verdichten. Nochmals sei Dr. Martin Zarnkow und Philipp Overberg als Berater wie Beiträger herzlich gedankt.
Aktualisiert: 2020-11-27
> findR *

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
Ich habe mir mit Bier wirklich viel Mühe gegeben. Mitte der 1980er Jahre arbeitete ich mich systematisch durch die Bestände eines ordentlichen Getränkehändlers. Schließlich konnte ich zwar sagen, welches Bier mir am besten schmeckt. Doch ist Bier nie wirklich zu »meinem« Getränk geworden. Das verwunderte und irritierte nicht wenige Weggefährten, lebe ich doch in einer recht flachen Landschaft, mehrere hundert Kilometer entfernt von den nächsten Weinbergen. Aber das Bier, das mir am besten geschmeckt hatte, wurde auch nicht in der Nähe gebraut. Die in meiner Region vornehmlich konsumierten Standardbiere stammen aus den bekannten Riesenbrauereien. Zwischen Qualität und Größe gibt es überhaupt keinen negativen Zusammenhang – wenn man unter Qualität Fehlerfreiheit und Geschmackskontinuität versteht. Legendär ein Bonmot über die Erzeugnisse der mittlerweile im Zuge vieler Fusions- und Konzentrationswellen verschwundenen Münsteraner Brauerei Germania, man könne ihr Bier trinken, wenn man schon knülle sei. Und den männlichen Gemeindemitgliedern im oberpfälzischen Irchenrieth – dem Geburtsort meines Großvaters väterlicherseits – graust es wahrscheinlich noch heute, wenn sie nur daran denken, dass sie die halbwegs gelungenen Biere der örtlichen Minibrauerei in einer konzertierten Aktion in der Dorfgaststätte austrinken mussten, bevor ein frischer (und vielleicht besser gelungener) Sud in die Gläser und auf den Tisch kam. Diese Brauerei ist allerdings schon so lange vergangen wie die Erzählung alt: Sie stammt aus dem Jahr der ersten Mondlandung. Seither hat sich viel getan, nicht nur technologisch und bei der Ausbildung von Mälzern und Brauern. Früher war nicht alles besser. Doch auf einmal wird Bier auch für den interessant, der bislang sein Näschen hob und krauste. Selbsternannten und tatsächlichen Könnern gelingt es in unzähligen kleineren und größeren Unternehmungen – unter Einhaltung oder willentlicher Übertretung des wahlweise fünf- oder doch erst einhundertjährigen »Reinheitsgebots« – überaus vielfältige und anregende Getränke zu brauen. Von »ziemlich schräg« bis »erstaunlich lecker« ist alles im facettenreichen Angebot. Das gefällt den Großen der Branche nicht wirklich, und angesichts des allgemein stagnierenden Bierkonsums vermehrt sich schneller als gedacht auch ihr Portfolio, wobei gelegentlich das individualisierte Äußere der Verpackung in Spannung zum mehrheitsfähigen Inneren steht. Tieferes Wissen über das Bierbrauen ist allgemein vermutlich dünn gesät. Zeit für das Journal Culinaire, sich des Themas anzunehmen und einige Schneisen in einen Themenblock zu fräsen, den unzählige Generationen brauender Menschen angereichert und fest gefügt haben. Das soll in zwei Ausgaben geschehen. In der vorliegenden No. 29 des Journal Culinaire liegt der Schwerpunkt auf dem Brauen selbst, in der folgenden No. 30 widmen wir uns stärker der mit dem Bier verknüpften Kultur.
Aktualisiert: 2020-11-27
> findR *
MEHR ANZEIGEN

Bücher zum Thema Martin Zarnkow

Sie suchen ein Buch über Martin Zarnkow? Bei Buch findr finden Sie eine große Auswahl Bücher zum Thema Martin Zarnkow. Entdecken Sie neue Bücher oder Klassiker für Sie selbst oder zum Verschenken. Buch findr hat zahlreiche Bücher zum Thema Martin Zarnkow im Sortiment. Nehmen Sie sich Zeit zum Stöbern und finden Sie das passende Buch für Ihr Lesevergnügen. Stöbern Sie durch unser Angebot und finden Sie aus unserer großen Auswahl das Buch, das Ihnen zusagt. Bei Buch findr finden Sie Romane, Ratgeber, wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher uvm. Bestellen Sie Ihr Buch zum Thema Martin Zarnkow einfach online und lassen Sie es sich bequem nach Hause schicken. Wir wünschen Ihnen schöne und entspannte Lesemomente mit Ihrem Buch.

Martin Zarnkow - Große Auswahl Bücher bei Buch findr

Bei uns finden Sie Bücher beliebter Autoren, Neuerscheinungen, Bestseller genauso wie alte Schätze. Bücher zum Thema Martin Zarnkow, die Ihre Fantasie anregen und Bücher, die Sie weiterbilden und Ihnen wissenschaftliche Fakten vermitteln. Ganz nach Ihrem Geschmack ist das passende Buch für Sie dabei. Finden Sie eine große Auswahl Bücher verschiedenster Genres, Verlage, Autoren bei Buchfindr:

Sie haben viele Möglichkeiten bei Buch findr die passenden Bücher für Ihr Lesevergnügen zu entdecken. Nutzen Sie unsere Suchfunktionen, um zu stöbern und für Sie interessante Bücher in den unterschiedlichen Genres und Kategorien zu finden. Unter Martin Zarnkow und weitere Themen und Kategorien finden Sie schnell und einfach eine Auflistung thematisch passender Bücher. Probieren Sie es aus, legen Sie jetzt los! Ihrem Lesevergnügen steht nichts im Wege. Nutzen Sie die Vorteile Ihre Bücher online zu kaufen und bekommen Sie die bestellten Bücher schnell und bequem zugestellt. Nehmen Sie sich die Zeit, online die Bücher Ihrer Wahl anzulesen, Buchempfehlungen und Rezensionen zu studieren, Informationen zu Autoren zu lesen. Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen das Team von Buchfindr.