journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll. Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen. Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt. Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden. Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten. Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft. Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen. Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel. Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Aktualisiert: 2023-06-01
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In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll. Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen. Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt. Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden. Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten. Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft. Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen. Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel. Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Aktualisiert: 2023-05-29
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In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll. Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen. Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt. Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden. Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten. Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft. Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen. Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel. Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Aktualisiert: 2023-05-27
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journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll. Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen. Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt. Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden. Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten. Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft. Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen. Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel. Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Aktualisiert: 2023-05-23
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journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll. Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen. Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt. Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden. Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten. Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft. Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen. Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel. Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Aktualisiert: 2023-05-22
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Wer hat noch nicht beobachtet, dass auch erwachsene Menschen selbst bei qualitativ hochwertigen Schinken sorgfältig den Fettrand abfieseln und schon die Nennung von „Fett“ Gesichtsausdrücke hervorruft, die sonst nur bei der Gabe von extrem Bitterem zu erwarten wären? Im Verein mit den Empfehlungen offizieller wie selbsternannter Ernährungsexperten ist die Wertschätzung gerade von tierischem Fett immer weiter zurückgegangen. Grund genug und auch an der Zeit, dass das das Journal Culinaire „Öl, Butter und Schmalz“ in den Fokus rückt. Denn in den vergangenen Jahren haben sich die Anzeichen für eine positivere Einschätzung aus den Wissenschaften und auch von Seiten der Praktiker und Genussmenschen deutlich vermehrt. Das Journal Culinaire bietet eine Plattform verantworteter Informationen auf der Höhe der Zeit.
Aktualisiert: 2023-05-20
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Der Geschmack der Kindheit. Ein durchaus angenehmes, phantasiebeflügelndes Bild: Die liebevoll kochende Oma oder Mutter, das gemeinsame Essen am alten Küchentisch, die kuhwarme Milch, das frisch gebackene, knusprige Brot. Heile Welt eben: Früher war alles besser, zumindest unbeschwerter. Mit „Geschmack der Kindheit“ werden ein Lieblingsgericht oder ein Lebensmittel assoziiert, das wohlige Erinnerungen an die Kindheit aufruft. Etwas weniger romantisch betrachtet werden gelegentlich auch beklemmende Erinnerungen an Speisen wach, die nicht zu den geschätzten zählten. Ab und an wird mit dem Geschmack der Kindheit die Abwesenheit von heute üblichen Hilfsmitteln beim Kochen und Backen verbunden, ein scheinbar einfaches, naturgemäßes Tun, das einen eigenständigen Geschmack hervorzubringen in der Lage ist. Geschmack der Kindheit, das sind ebenso die kräftigen Schwaden, die vor allem beim Kochen von Kohl durch die Wohnung zogen. Es bleibt offen, ob Kinder „früher“ empfindsamer waren oder die kräftigen Düfte durch Anstrengungen der Pflanzenzüchtung und küchentechnische Ausstattungen wie der Dunstabzugshaube limitiert worden sind. Manchmal erinnere ich eine einzigartige Aromenkombination, die ich bis in meine frühen Kindergartentage zurückverfolgen kann: Leberwurst auf dunklem, feinporigem Doppelbackbrot, dazu knackig-saftige, säuerliche Apfelstücke mit grüner Schale. Für den Bruchteil einer Sekunde steht diese Erinnerung mit größtmöglicher Präsenz, wie gerade geschmeckt, im Raum – um sofort wieder zu verblassen. Sie lässt sich weder herbeidenken oder -wünschen, noch ist sie an die tatsächliche Anwesenheit einer oder aller Aromen dieser Kombination gebunden. Schließlich und nicht zuletzt wird der „Geschmack der Kindheit“ herangezogen, um werdende Mütter daran zu erinnern, dass ihre Kinder schon im Fruchtwasser lernen, Aromen zu mögen, die ihre Mütter mit der Nahrung regelmäßig aufnehmen. Wahrscheinlich zählt das Aneignen von Geschmäckern und Düften zu unseren größten Lebenslernleistungen mit einer durchaus soliden Verankerung in unserem Gedächtnis. Über die Funktion hinaus, uns vor Schädlichem zu bewahren, also gutes von schlechtem Essen zu trennen, lernen wir immer neu, was für uns ein Genuss ist und was nicht. Doch diese Art des Lernens wird meist unterschätzt. Nur wenn wir gegen unseren ursprünglichen Widerstand versuchen, etwas „gut schmeckend“ zu finden, rückt dieses Verfahren ins Bewusstsein – um nach erfolgreichem Lernen wieder ins weniger Bewusste abzusinken. Beim Konservieren entstehen und entwickeln sich Aromen, die in der Natur nicht vorkommen. Konserviertes zu genießen bedarf also des geschmacklichen Lernens. Im Journal Culinaire No. 17 haben wir schon vor vier Jahren die alte und bewährte Konserviertechnik Fermentieren buchstäblich in den Fokus gerückt. Bewegung und Interesse sind seither nicht abgeflaut. Allenthalben wird die Frage nach dem Konservieren gerade von Obst und Gemüse gestellt. Es wird in kreativen privaten wie professionellen Küchen freudig experimentiert. Der immer wieder neu zu entdeckende und zu erarbeitende Reichtum an Aromen und Konsistenzen ist faszinierend. Das Fermentieren ist nur eine von vielen Konserviertechniken. Die damit einhergehenden Veränderungen des Ausgangsmaterials erweitern unser ohnehin weites Spektrum des Essbaren. Es sind anschauliche, praktisch relevante und andauernde Beispiele für Kulturleistungen des Menschen, in denen sich Regionen, Landschaften, ganze Kontinente widerspiegeln.
Aktualisiert: 2023-05-20
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journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
In unserer Familie war das allgegenwärtige Getränk zum gemeinsamen Abendbrot Kräuter- oder Früchtetee. Er war lindgrün von gelegentlich selbst gesammelter Pfefferminze, deutlich rot und etwas säuerlich von Hagebutten und Hibiskus, selten von duftigem Gelb, das die süße Kamille dem heißen Wasser mitgeteilt hatte. Geschmacklich waren alle Varianten sehr zurückhaltend, mehr zart aromatisiert als charaktervoll. Überhaupt waren Getränke zum Essen in der Familie geradezu verpönt. Die morgendliche Milch wurde, wie der alternative Kakao, als Nahrung begriffen. Zum Mittagessen gab es grundsätzlich nichts zu trinken. Über den Tag stand kalter Früchtetee bereit, aber klarer Sprudel (leider mit Zimmertemperatur) stand bei den meisten höher im Kurs. Das änderte sich auch nicht, als meine Mutter dazu überging, die Tees vorsichtig zu süßen. Denn ab Mitte der 1970er Jahre begann bei uns die Holunderepoche. Sie währte mehrere Jahrzehnte. Waschkörbeweise wurden Holunderblüten gesammelt. Die wurden mit reichlich feinsäuberlich in Scheiben geschnittenen Zitronen und genau abgemessenen Mengen Zucker und Wasser einige Zeit unter gelegentlichem Rühren mazeriert. Nach dem Abseihen wurde der leichte Sirup kurz aufgekocht, wobei die aufschwemmenden Holunderpollen abgeschöpft wurden. Auf Flaschen gezogen reichte die Menge über das ganze Jahr. Gelegentlicher Schimmel – die Twist-off-Deckel der Flaschen waren nach vielmaligem Gebrauch eine Schwachstelle – wurde unaufgeregt entfernt. Der singuläre Holunderduft des Sirups war durchaus gewöhnungsbedürftig. Schmackhaft gemacht wurde er uns mit dem Hinweis auf das gesunde Vitamin C der Zitronen. Ein ambitionierter Versuch, aus Holunderblüten mit denselben Zutaten einen spritzigen Sekt zu gewinnen, ging allerdings spektakulär fehl. Nicht wenige Flaschen zerbarsten im Vorratskeller oder entleerten sich eruptiv – selbst beim Versuch, sie mit Vorsicht zu öffnen. Von einem feinen Geschmack waren die wenigen scheinbar gelungenen Exemplare weit entfernt. Wir Kinder durften probieren – was von unserer Seite vor allem von der Aussicht motiviert war, erlaubterweise etwas Alkoholhaltiges zu verkosten. Es blieb bei einem enttäuschenden Versuch. Leckerer waren die Holunderblüten, wenn sie in Pfannkuchenteig ausgebacken wurden. Früchte- und Kräutertees begleiteten uns Heranwachsende auch aushäusig. Legendär die heißen oder lauen Farbwässer in robustem Hotelporzellan, häufiger Krüge denn Kannen, dargeboten morgens wie abends in Sommerlagern oder Tagungshäusern. Abgezapft wurden sie aus monströsen Edelstahl-Tee-töpfen, in denen einzelne Teebeutel vergeblich ihresgleichen suchten. Im einen oder anderen Fall schmeckte das heiße Wasser verdächtig nach den Spülschwaden, die aus der geöffneten Großküchentür in den Speisesaal waberten. Die konturarmen und nicht wirklich positiv stimmenden Infusionserfahrungen der Kindheit und Jugend erfuhren während einer Provencereise eine positive Wendung. Zum Abschluss eines erfreulichen Restaurantbesuchs im pittoresken Cucuron am Luberongebirge orderten wir – es ist nicht mehr zu rekonstruieren, wer oder was uns da geritten hat – zum Abschluss keinen café, sondern eine tisane. Serviert wurde eine Glaskanne mit heißem Wasser – und ein ordentliches Büschel Thymian, eigentlich ein veritabler Zweig. Die schlichte Präsentation wie das markante, würzig-staubig-trockene Aroma des kleinblättrigen Krauts, das sich mit dem zweiten und dritten Tässchen noch verstärkte, war überwältigend und überzeugte uns fortan von in Wasser aufblühender Kräuterkraft. Bei anderer Gelegenheit besuchten wir Thymian in einem seiner natürlichen Habitate. Die kalkigen Spitzen der Dentelles de Montmirail im Département Vaucluse westlich des Mont Ventoux pieksten den unwirklich blauen Himmel der Provence. Hier wachsen mit dem Gigondas die wuchtigsten Rotweine und gleichermaßen die duftigsten süßen Muscats der Provence. Unweit der (damals) ruinösen Kapelle Saint-Hilaire nordwestlich und oberhalb von Beaumes-de-Venise, in den steilen, nur scheinbar unwirtlichen Weinbergen, kündigte der Thymian sich früh mit seinem Duft an. Womöglich wären wir an ihm vorbei-gegangen, so unscheinbar war er. Er war fast eins mit seinem Standort. Erst dachten wir, er sei so grau, weil bestäubt vom ausgedörrten Boden. Wir nahmen das eine oder andere Zweiglein mit, aber auch nach dem Baden behielt er seinen gräulichen Ton. Es war schließlich ein Kaninchengericht, dem der Weinbergthymian sein Parfum zuerst mitteilte. Das ist unvergessen. Die schreiend bunte Vielfalt von Kräuter- und Früchteteemischungen in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels ist bemerkenswert. Grafikdesign und Marketinglyrik treffen sich zur großen Feier. Für jede Tages- und Nachtzeit, jegliche optimistische wie depressive oder allgemein gesundheitliche Befindlichkeit, für jede definierbare soziologische Gruppe gibt es zielgenaue Angebote, meist portioniert zur bequemen Anwendung. Selbstverständlich werden in einem Segment, in dem jeder Bundesbürger statistisch über ein halbes Pfund vertrinkt, das sind etwa 35 Kästchen à 20 Teebeutel, interessante Erträge erwirtschaftet. Geforscht wird nicht nur in Bezug auf Rückstände in den pflanzlichen Rohstoffen und auf sensorisch erfolgreiche Mischungen. Auch in der Verarbeitung der Rohstoffe sind durch Patente geschützte Verfahren entwickelt worden, die neue Anwendungen ermöglichen. Doch darüber Auskunft zu erhalten ist ein eigenes Kapitel. Der Weg für eigene Infusionsversuche jedoch ist kurz und meist erfreulich.
Aktualisiert: 2023-05-22
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Der Geschmack der Kindheit. Ein durchaus angenehmes, phantasiebeflügelndes Bild: Die liebevoll kochende Oma oder Mutter, das gemeinsame Essen am alten Küchentisch, die kuhwarme Milch, das frisch gebackene, knusprige Brot. Heile Welt eben: Früher war alles besser, zumindest unbeschwerter. Mit „Geschmack der Kindheit“ werden ein Lieblingsgericht oder ein Lebensmittel assoziiert, das wohlige Erinnerungen an die Kindheit aufruft. Etwas weniger romantisch betrachtet werden gelegentlich auch beklemmende Erinnerungen an Speisen wach, die nicht zu den geschätzten zählten. Ab und an wird mit dem Geschmack der Kindheit die Abwesenheit von heute üblichen Hilfsmitteln beim Kochen und Backen verbunden, ein scheinbar einfaches, naturgemäßes Tun, das einen eigenständigen Geschmack hervorzubringen in der Lage ist. Geschmack der Kindheit, das sind ebenso die kräftigen Schwaden, die vor allem beim Kochen von Kohl durch die Wohnung zogen. Es bleibt offen, ob Kinder „früher“ empfindsamer waren oder die kräftigen Düfte durch Anstrengungen der Pflanzenzüchtung und küchentechnische Ausstattungen wie der Dunstabzugshaube limitiert worden sind. Manchmal erinnere ich eine einzigartige Aromenkombination, die ich bis in meine frühen Kindergartentage zurückverfolgen kann: Leberwurst auf dunklem, feinporigem Doppelbackbrot, dazu knackig-saftige, säuerliche Apfelstücke mit grüner Schale. Für den Bruchteil einer Sekunde steht diese Erinnerung mit größtmöglicher Präsenz, wie gerade geschmeckt, im Raum – um sofort wieder zu verblassen. Sie lässt sich weder herbeidenken oder -wünschen, noch ist sie an die tatsächliche Anwesenheit einer oder aller Aromen dieser Kombination gebunden. Schließlich und nicht zuletzt wird der „Geschmack der Kindheit“ herangezogen, um werdende Mütter daran zu erinnern, dass ihre Kinder schon im Fruchtwasser lernen, Aromen zu mögen, die ihre Mütter mit der Nahrung regelmäßig aufnehmen. Wahrscheinlich zählt das Aneignen von Geschmäckern und Düften zu unseren größten Lebenslernleistungen mit einer durchaus soliden Verankerung in unserem Gedächtnis. Über die Funktion hinaus, uns vor Schädlichem zu bewahren, also gutes von schlechtem Essen zu trennen, lernen wir immer neu, was für uns ein Genuss ist und was nicht. Doch diese Art des Lernens wird meist unterschätzt. Nur wenn wir gegen unseren ursprünglichen Widerstand versuchen, etwas „gut schmeckend“ zu finden, rückt dieses Verfahren ins Bewusstsein – um nach erfolgreichem Lernen wieder ins weniger Bewusste abzusinken. Beim Konservieren entstehen und entwickeln sich Aromen, die in der Natur nicht vorkommen. Konserviertes zu genießen bedarf also des geschmacklichen Lernens. Im Journal Culinaire No. 17 haben wir schon vor vier Jahren die alte und bewährte Konserviertechnik Fermentieren buchstäblich in den Fokus gerückt. Bewegung und Interesse sind seither nicht abgeflaut. Allenthalben wird die Frage nach dem Konservieren gerade von Obst und Gemüse gestellt. Es wird in kreativen privaten wie professionellen Küchen freudig experimentiert. Der immer wieder neu zu entdeckende und zu erarbeitende Reichtum an Aromen und Konsistenzen ist faszinierend. Das Fermentieren ist nur eine von vielen Konserviertechniken. Die damit einhergehenden Veränderungen des Ausgangsmaterials erweitern unser ohnehin weites Spektrum des Essbaren. Es sind anschauliche, praktisch relevante und andauernde Beispiele für Kulturleistungen des Menschen, in denen sich Regionen, Landschaften, ganze Kontinente widerspiegeln.
Aktualisiert: 2023-05-20
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Wer hat noch nicht beobachtet, dass auch erwachsene Menschen selbst bei qualitativ hochwertigen Schinken sorgfältig den Fettrand abfieseln und schon die Nennung von „Fett“ Gesichtsausdrücke hervorruft, die sonst nur bei der Gabe von extrem Bitterem zu erwarten wären? Im Verein mit den Empfehlungen offizieller wie selbsternannter Ernährungsexperten ist die Wertschätzung gerade von tierischem Fett immer weiter zurückgegangen. Grund genug und auch an der Zeit, dass das das Journal Culinaire „Öl, Butter und Schmalz“ in den Fokus rückt. Denn in den vergangenen Jahren haben sich die Anzeichen für eine positivere Einschätzung aus den Wissenschaften und auch von Seiten der Praktiker und Genussmenschen deutlich vermehrt. Das Journal Culinaire bietet eine Plattform verantworteter Informationen auf der Höhe der Zeit.
Aktualisiert: 2023-05-20
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Editorial Der Tag ist noch jung. Die Blätter an den Lindenbäumen vor meinem Büro sind in den vergangenen Tagen gelb geworden. Vom Sonnenlicht durch-flutet, scheinen sie für einen kurzen Moment ihre jugendliche Leichtigkeit des Frühlings zurückzugewinnen. Doch jeder Windhauch macht sich über ihre Kraftlosigkeit lustig und zupft sie behänd von den Zweigen. Meine Lieblings-Teeschale aus weißem, doppelwandigem Porzellan, innen glänzend und außen von matter, strukturierter Oberfläche, wie ein Seeigel ohne Stacheln, liegt angenehm wärmend in der Hand. Ich habe mir soeben einen belebenden japanischen Kukicha zubereitet, einen grünen Blattstieltee. Die nadelähnlichen Blätter und Stielstücke in hellen und dunkleren Grüntönen duften frisch und mild. Sie werden mit auf 70 °C temperiertem Wasser aufgegossen und ziehen im Kännchen eine gute Minute. In dieser kurzen Zeitspanne beobachte ich fasziniert, wie die Teebestandteile langsam an die Oberfläche steigen und inhaliere den überaus feinen Duft, der aus dem Kännchen steigt. Es ist der erste Aufguss von mehreren, die allesamt nur sehr kurz ziehen werden. Die zwischen Grün und Gelb changierende Farbe des Tees korrespondiert mit den herbstlichen Lindenblättern. Sein Geschmack ist fein und würzig, herb und süß, algig und kräuterig. Im Nachhall überrascht der Tee mit einer zarten und doch sehr persistenten Liebstöckelassoziation. Mit jedem Aufguss verändert sich das Getränk. Die algig-grünen Aspekte treten in den Hintergrund, die herben, dezent adstringierenden Noten werden präsenter. Erspüre ich sogar eine Malznote? Tee stand und steht für mich als Begleiter über den Tageslauf schon seit fast fünf Jahrzehnten an erster Stelle. Vor allem Darjeeling und gelegentlich Earl Grey trinke ich mit Genuss – und in rauen Mengen. Deren beider Zubereitung ist routiniert: Fast eineinhalb Liter werden im Wasserkocher sprudelnd aufgekocht. In der Zwischenzeit wird eine genau bemessene Menge Schwarzen Tees in ein Filterpapierbeutelchen gegeben. Das heiße Wasser wird darüber gegossen, der Beutel in den nächsten knapp drei Minuten mehrfach geschwenkt, dann entfernt. Der Tee bleibt in der doppelwandigen Edelstahlkanne erstaunlich lange warm, aber die letzte Tasse trinke ich gelegentlich doch kalt, woran ich mich klaglos gewöhnt habe. Schon in den ersten Monaten der Erarbeitung unserer neuen Ausgabe des Journals lerne ich, die anderswo über Jahrtausende entwickelte, komplexe Teevielfalt nicht zuletzt in der Zubereitung für mich zu entdecken, mit sensorischen Erfahrungen zu verknüpfen und anzureichern. Weit von jeder Kennerschaft entfernt erahne ich, dass mich die davon ausgehende Faszination nicht wieder loslassen wird. Jedenfalls finde ich mich nun des Öfteren in der Küche wieder. Ich trinke nicht mehr und nicht weniger Tee, aber für die Auswahl und Zubereitung nehme ich mir Zeit und bin signifikant aufmerksamer. Die Arbeit an der No. 35 nahm nolens volens einen typischen Verlauf. Im Kopf passten die Themen »Tee« und »Infusionen« verlockend und wie selbstverständlich zusammen: Heißes Wasser entzieht irgendwelchen getrockneten Pflanzenteilen ihren Geschmack. Die Recherche hatte kaum Fahrt aufgenommen, schon entlarvte sich der scheinbar großzügige Wurf als ein oberflächlicher. Samuel Herzog formulierte im redaktionellen Vorgespräch eine fast vorwurfsvolle Skepsis – schon wegen des schieren Facettenreichtums des Tee-Themas sei eine Verbindung beider Felder schlechterdings undenkbar. Nach jedem Gespräch mit Menschen, die sich als Produzenten und Händler oder auch »nur« als Konsumenten mit »Tee« beschäftigen, blätterte sich auch für mich die faszinierende Welt dieser einzelnen Pflanzenart aus der Gattung Kamelien in der Familie der Teestrauchgewächse weiter auf, die der Camellia sinensis. Auch jetzt, nach Abschluss der Arbeit (und beim mittlerweile dritten Aufguss des Kukicha) staune ich anhaltend. Das Journal Culinaire hat sich in den vergangenen Jahren in nicht wenige Bereiche ordentlich vertieft und hat die bewundernswerte Innovationskraft, den erstaunlichen Ideenreichtum und die zähe Hartnäckigkeit der Menschen bewundert und gefeiert, die aus den vorgegebenen natürlichen Lebensgrundlagen eine überbordende Lebens- und Genussmittelvielfalt haben entstehen lassen. Die Tees aus der Camellia sinensis sind in ihren ziselierten Ausarbeitungen ein großartiges Beispiel. Auch wenn wir die Empirie heute theoretisch weitgehend durchdringen können (was Thomas A. Vilgis hier für uns tiefenscharf aufbereitet), bleibt die praktische Durchführung auf den höchsten Qualitätsstufen dem meisterlich-handwerklichen Können vorbehalten. Vieles wäre noch mit Gewinn zu bedenken. Die Themen landwirtschaftliche Produktion und Handel werden ebenso wie die Geschichte nur angerissen, vor allem wird den spannenden Wegen nicht systematisch nachgegangen, die Tee aus dem Osten in die alte Welt genommen hat. Dieses Journal Culinaire möge ein zumindest solider Anreiz sein, sich nicht nur mit einem einzelnen Tee-Aufguss zufriedenzugeben. Genießen Sie einen jeden und halten Sie nicht nur Ihre sensorische Aufmerksamkeit hoch.
Aktualisiert: 2023-01-03
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Editorial Eine Gruppe engagierter Riesling-Enthusiasten fand sich am Vorabend des diesjährigen Internationalen Riesling Symposiums ISR auf Kloster Eberbach in Geisenheim zusammen. Mit dem Rhein im Rücken, Panoramablick in den Rheingau und der monumentalen Benediktinerinnenabtei St. Hildegard im Westen erläuterte der Präsident der Hochschule Geisenheim, Prof. Dr. Hans Reiner Schultz, das FACE-Experiment (Free Air Carbon Dioxide Enrichment) für Spezialkulturen. Unterhalb der Weinberge der Hochschule Geisenheim am Eibinger Weg wurden vor einem Jahrzehnt auf einer fast ebenen Fläche Rebzeilen in nordsüdlicher Ausrichtung mit Riesling und Cabernet Sauvignon bestockt. Inmitten der Rebflächen stehen sechs Ringsysteme mit einem Durchmesser von zwölf Metern aus mehr als mannshohen Einzelelementen, an deren Spitze Steuerungen, Ventilatoren und Messgeräte angebracht sind. Es sirrt und flirrt, als wäre ein Schwarm Drohnen im Anflug. In Abhängigkeit von Windrichtung und -intensität schwillt die Geräuschkulisse an oder reduziert sich zu einem dezenten Säuseln. Innerhalb dreier Kreise wird eine CO2-Konzentration erzeugt, die der für 2050 prognostizierten CO2-Luftkonzentration entspricht, drei Kreise dienen der Kontrolle. Das Interesse der Forscherinnen und Forscher ist vielfältig. Wie wirken sich die modifizierten und mutmaßlich schon bald realen Bedingungen auf Boden und Wachstum der Reben aus? Zu welchen Wechselwirkungen kommt es mit den Pflanzen und möglichen Schaderregern? Letztlich steht die Frage nach den Auswirkungen auf die Qualität von Wein im Blickpunkt, der durch die Inhaltsstoffe der Trauben bestimmt wird. Schultz machte deutlich, dass die Veränderungen der Reben sich im Bereich der Epigenetik abspielen. Die Grundlagenforschung zur Epigenetik läuft in Biologie und Medizin auf Hochtouren und ist mit großen Erwartungen verknüpft. Denn für die prognostizierten, recht schnellen Reaktionen der Pflanzen auf die veränderten Umweltbedingungen ist das überkommene Verständnis der DNA-Sequenz nicht hinreichend. Sie beschreibt »nur« die festgelegten, harten, nicht mehr veränderbaren Veränderungen bei DNA-Mutationen. Die Epigenetik eröffnet neue Perspektiven. Sie umfasst Genregulationen, die durch Versorgung und Stoffwechselumsatz in den Zellen, Hormone, Stress und die Einflüsse der Umwelt ausgelöst werden, indem Enzyme aktiviert werden. Enzyme ihrerseits spielen eine entscheidende Rolle bei der räumlichen Organisation der Erbinformationen und sind in der Lage, Gene an- oder abzuschalten. Die Forschung erkundet Wege zur normalen Entwicklung von Zellen und deren Reprogrammierung oder sucht nach Mechanismen, die fehlgesteuerte Signale auslösen, die zu Krebs, Stoffwechsel- oder neurodegenerativen Krankheiten führen. Seit nicht einmal zwanzig Jahren ist bekannt, dass Vererbungen nicht nur durch Veränderungen an der DNA, sondern eben auch an der Peripherie der Gene an kommende Generationen weitergegeben werden können. Enzymatisch bedingte Effekte sind allerdings nicht dauerhaft und können wieder verändert werden. Die Vererbbarkeit von erworbenen Eigenschaften reicht über zwei oder drei Generationen, dann fällt ihr Zustand in den ursprünglichen zurück. Versuche zur Nahrungsaufnahme – zum größten Teil an kleinen Modellorganismen wie Fruchtfliegen, Fadenwürmern und auch Mäusen – haben das zeigen können. Gegenwärtig arbeiten allein in Deutschland knapp zwei Dutzend Arbeitsgruppen daran, die epigenetischen Mechanismen zu erkunden und zu beschreiben. Wir halten die Epigenetik aktuell für eines der wichtigsten und spannendsten Forschungsgebiete nicht nur für die Medizin, sondern auch für die allgemeine Ernährungspraxis. Das betrifft direkte Ernährungsempfehlungen und -anweisungen ebenso wie indirektere Wege über die Pflanzen- und Tierzucht. Um einen ersten Eindruck zur Epigenetik zu vermitteln, haben wir Ihnen im Fokus drei Beiträge mit unterschiedlichen Positionen und Ansätzen zusammengestellt. Sie eröffnen eine gute, auch spannungsreiche Bandbreite des Umgangs mit den erweiterten Vorstellungen von Vererbung. Das Journal Culinaire hat im Laufe seiner jetzt vorliegenden 34 Ausgaben zahlreiche größere und kleinere Wandlungen erlebt. Die augenfälligste ging einher mit dem Wechsel in der Chefredaktion ab Heft No. 4 im Frühjahr 2007. Die prägnante Neugestaltung durch Elmar Lixenfeld war auf der inhaltlichen Ebene mit einigen Weiterentwicklungen verbunden. Die nahm in den folgenden Jahren einige Fahrt auf. Mit der Ausgabe No. 12 fand das Konzept einen relativen Abschluss. Seither hat der Inhalt des Journal Culinaire eine klare Struktur: Das Titelthema jeder Ausgabe findet sich im Fokus, weitere Beiträge aus der Welt der Kulinarik haben im Forum ihren Platz, hinzu gesellen sich einige Rezensionen. Viele erinnern sich an markante Titelthemen des Journal Culinaire wie Fermentation, Brot backen oder Fette und Öle. Doch machen die zahlreichen und wichtigen Beiträge in den Foren eine Ausgabe des Journal Culinaire erst »rund«, öffnen Perspektiven und setzen Maßstäbe.
Aktualisiert: 2022-06-23
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Vor zwei Jahren erschien in der »Naturkunden«-Reihe im Berliner Matthes-und-Seitz-Verlag das Büchlein »Algen«. Darin zeichnet Miek Zwamborn ein erzählerisch begeisterndes und sensibles Algenporträt von informativer Dichte. Konturen einer nahezu verborgenen Welt erscheinen, wecken Aufmerksamkeit und ein gesteigertes Interesse, aus der Perspektive des Journal Culinaire genauer hinzuschauen. Der Befund: Nori als Hüllpapier für Sushi und Wakame, der knallgrüne Fertigsalat, meist mit geröstetem Sesam – im Vergleich zu der allgegenwärtigen und vielfältigen Präsenz in Japan sind Algen in unseren Küchen eher selten anzutreffen. – Eine Foodscoutin aus der Nähe von Hamburg, die ein breites Spektrum vor allem japanischer Algen vorhält, berichtet vom Interesse der Hochgastronomie, Algen immerhin als interessante Dekoelemente zu nutzen. – Der Historiker Carsten Jahnke, der als Associate Professor am SAXO-Institut für Archäologie, Ethnologie und Geschichte der Universität Kopenhagen fast ein Jahrtausend des nördlichen Europa überblickt, winkt gänzlich ab: Einen historischen Genuss von Algen könne er in den Quellen nicht nachweisen. Anders an der französischen Atlantikküste: 2013 erschien in der Bretagne ein »Guide de Bonnes Pratiques« zur »Récolte des Algues de Rive«. Praxisorientiert werden die guten – und schlechten – Vorgehensweisen bei der Bio- Algenernte zusammengetragen. Großalgen werden detailliert vorgestellt, Regeln für die Ernte der Algen an der Küste formuliert und Hinweise gegeben, wie man zum Bio-Algenernter wird; nicht zuletzt wird eindringlich der Schutz der Umwelt eingefordert. Karten geben eine erste Orientierung, welche französischen Küstenabschnitte für biokonforme Aktivitäten infrage kommen. Insgesamt ist der Guide ein überzeugendes Dokument für die Bedeutung von Algen in Frankreich, nicht zuletzt in kommerzieller Hinsicht (Download unter: www.bio-bretagne-ibb.fr). Magali Molla erwartet uns auf ihrem Betriebsgelände in einem kleinen Industriegebiet von Saint-Méloir-des-Ondes zwischen Cancale und Saint-Malo. Mitte Oktober läuft die Ernte auf Hochtouren. Auf zahlreichen Metallständern trocknen lange Algenstreifen. In einem schmucklosen Hallenkubus sind Kabinen zur Algenanzucht eingestellt. Seit fast zwei Jahrzehnten arbeitet sie mit ihrem Mann an der Zucht von Großalgen an Leinen in den Küstengew.ssern der Bretagne. Die Aussichten sind rosig. Gerade haben sie eine weitere Dependance in Cancale eröffnet, Zuchten in Irland und Norwegen werden aufgebaut. Sie wird uns ihre Arbeit im Journal Culinaire No. 34 vorstellen. Knapp vier Kilometer nördlich, im Château Richeux, dem Restaurant »Le Coquillage« der Familie Roellinger mit direktem Blick auf die Bucht des Mont-Saint-Michel, wird als erster Gang ein »Eau de Vie« annonciert: In einem irdenen Teeschälchen liegen einige hauchzarte, in dunklen Tönen schillernde Algen-Streifchen; vereinzelt sind gelbe Sprenkel von einem Zitrusfrucht- Abrieb zu erkennen. Aus einem Porzellankännchen wird eine kalte, wasserklare Flüssigkeit angegossen. Ein zarter Duft breitet sich aus, als habe man das Fenster zum Meer tatsächlich geöffnet. Die Verkostung bestätigt den Duft-Eindruck. Er wird durch Salz und umami geschmacklich ergänzt. Ab und an blendet das unverwechselbare Yuzu-Aroma des Abriebs durch: Das ungewöhnliche »Wasser des Lebens« zaubert ein Lächeln aufs Gesicht. Aromatisch und überaus fein verbindet es den Ort und die Weite der Aromawelt, für die Olivier Roellinger mit seinen hochwertigen Gewürzen berühmt ist. Gut zweihundert Kilometer weiter nordöstlich, im flandrischen Teil Frankreichs unweit der Kanalküste, kommt als Teil des Grußes aus der Küche von »La Grenouillère« ein zartes Wachtelei mit einer samtigen, grasgrünen Oberfläche an den Tisch. Es ist ein feines Algenpulver, mit dem Alexandre Gauthier das Ei auf unnachahmliche Weise würzt, ein unprätentiöses, spielerisches Kleinod fürs Auge, für den Geschmack und die Nase. Die Algenzucht in den deutschsprachigen Ländern hat wenig kulinarische Ambitionen und findet an Land statt. 2006 etablierte Prof. Klaus Lüning eine erste Makroalgen-Zucht auf Sylt, doch werden zunehmend und an zahlreichen Orten vor allem Mikroalgen in landbasierter Kultivierung gewonnen. Forschungen fokussieren sich in der ganzen EU auf Nahrungsergänzungsmittel sowie pharmazeutische und kosmetische Anwendungen. Algen müssten uns viel näher und sympathischer sein, als sie es im Alltag tatsächlich sind. Oxyphotobacteria waren es schließlich, die die Photosynthese erfanden, Grundlage allen Lebens auf unserem Planeten. Die dynamische Forschung und Entwicklung für vielfältige Anwendungen von Algen ist unaufhaltsam. Doch eine kulinarisch orientierte Algenkultur zeichnet sich nicht ab. Vielleicht nehmen Sie die Lektüre des Journal Culinaire zum Anlass, Algen genießen zu lernen?
Aktualisiert: 2022-01-27
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Editorial Im Jahr 2014 hat Hanni Rützler im Food Report des Zukunftsinstituts den ursprünglich angelsächsischen Begriff »Flexitarier« in die deutschsprachige Diskussion um das »richtige« Essen eingeführt. Ihre Idee war, die Frontstellung unterschiedlicher Ernährungsstile zu befrieden, und sie erwartete, dass es zu einer offeneren und entspannteren Ernährungsdiskussion kommen würde. Ob das so eingetreten ist, dürfte durchaus umstritten sein. Sicherlich ist seither die Landkarte unterschiedlicher Ernährungspraktiken vielfältiger geworden. Und unbestreitbar ist die Selbstbezeichnung »Flexitarier« ausgezeichnet geeignet, sich von barbarischen Fleischessern abzugrenzen: Sie klingt weitaus besser als »Omnivore«, dürfte aber gern als Feigenblatt dafür genommen werden, das eigene Ernährungsverhalten zu kaschieren. Bemerkenswert ist das differenzierte vegetarische und vor allem dynamisch wachsende vegane Angebot im Lebensmitteleinzelhandel bis hin zu den Discountern. In der Lebensmittelindustrie weckt das zunehmende Interesse von Kunden Ertragserwartungen nicht zuletzt wegen attraktiver Margen. Der hohe Anteil offensichtlicher Ersatzprodukte irritiert – von Hafermilch bis zum Burger aus Erbsenproteinen. Das erweckt den Eindruck, als läge das Interesse bei einer alternativen Ernährungsorientierung ausschließlich auf der Rohstoffebene einer gleichbleibend industriellen Lebensmittelproduktion. Überzeugender wäre es, wenn aus neuen Proteinquellen originäre Produkte entwickelt würden. Stattdessen gibt es Fleisch- und Wurstimitate zuhauf. Am Beispiel glutenfreier Brote wurde das Verfahren in jüngster Vergangenheit paradigmatisch exerziert. Aber nicht wenige mussten nach einem Einkauf irritiert feststellen, dass die besten glutenfreien Brote selbst hinter ihre industriellen Pendants mit Gluten zurückfallen. Trotzdem gingen die Produktionszahlen durch die Decke. Scheuten die meisten Hersteller dennoch, ihre Produktionskapazitäten zu erweitern. In dieser Gemengelage bleibt meist zu wenig Raum, klare Positionen und Informationen konstruktiv auszutauschen. Das jedoch ist Grundlage für jede aufgeklärte Meinungsbildung. Einfache Ergebnisse oder Lösungen scheinen per se ausgeschlossen, wie meist in unserer differenzierten Welt. Das darf keine Ausrede sein, um Dialoge zu verweigern. Im Gegenteil. Mit der so häufig beschworenen kulturellen Teilhabe sind mehr als nur Kino- und Theaterbesuche gemeint. Im Journal Culinaire No. 32 »Vegetarisch und vegan« versammeln sich Beiträge, die sich aus zahlreichen und gelegentlich überraschenden Perspektiven dem Thema zuwenden. Während der Lektüre mag sich im einen Fall Zustimmung, im anderen hingegen Widerstand regen. In der Zusammenschau, so der Eindruck des Herausgebers, entspannt sich manche konventionelle Frontstellung und gibt den Blick frei für Fragestellungen, die von den üblichen Schlagworten verdeckt werden und dringend gemeinsam zu verhandeln wären. Das ist eine gute Gelegenheit, Sie zu bitten, uns an Ihren Überlegungen und Einschätzungen teilhaben zu lassen (redaktion@journal-culinaire.de)!
Aktualisiert: 2022-05-17
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Editorial Gestern habe sie eine Gurkensuppe gekocht, sagt meine Friseurin. Ich sitze ziemlich abwesend, ohne Brille, mit Mundschutz und feuchten Haaren vor dem großen Spiegel in ihrem Salon und bin sofort hellwach. Sylvie kam vor drei Jahrzehnten als Teenager mit ihrer Mutter – auch sie Friseurmeisterin – aus Polen nach Deutschland. Ab und an erzählen wir uns von unseren kulinarischen Erfahrungen. Sylvie und vor allem ihre Verwandtschaft im ländlichen Polen sind tief und fest verwurzelt in regionalen oder besser sogar lokalen Küchentraditionen. Der eigene Garten und ein schlachtender Metzger in der Familie scheinen dafür ernst zu nehmende Garanten. Aus dieser polnischen Perspektive blickt Sylvie mit ordentlicher Skepsis auf das hier von der Lebensmittelindustrie Produzierte und sucht es, soweit möglich, zu meiden. Sie er-zählte irgendwann einmal anschaulich von ihrer mittlerweile hochbetagten Oma: Die filigrane Person kommt auf dem Bahnsteig in Münster an und wuchtet Koffer mit ordentlichem Fleisch und selbst eingelegten oder eingekochten Lebensmitteln aus dem Zug, deren Gewicht ihr eigenes Körpergewicht über-treffen. Oma reist nicht mehr. Gestern also Gurkensuppe. Spontan sage ich, was mir durch den Kopf schießt: eingelegte Gurken. Genauer: milchsauer fermentierte Gurken, keine Essiggurken. Jetzt zögert Sylvie den Bruchteil einer Sekunde, wie um sich erst erinnern zu müssen, dass es überhaupt in Essig eingelegte Gurken gibt. Und sagt dann lächelnd: Na klar. Später huscht ihr sogar ein nahezu verträumter Ausdruck durchs Gesicht in Erinnerung an gerade eingelegte, erst zwei Tage fermentierte Gurken mit ihrem überaus feinen, zarten Aroma und britzelnden Geschmack. Wir sprechen im Verlauf der Scherung gar nicht mehr über die Suppe, sondern über das Einlegen oder milchsaure Vergären von Gemüse (wobei die unerträgliche Süße deutscher Essiggurken echte Entrüstung hervorrief). Naheliegender Weise stelle ich die Frage, ob auch Getreide fermentiert worden sei. Es wurde. Mit fermentiertem Roggenschrot wurde Zurek, eine einfache Suppe aus Kartoffeln und Wursteinlage, gebunden. In »Zurek« klingt »sauer« auch für uns noch an. Sylvie erwähnt beiläufig, als sie mir gerade den Spiegel zur abschließenden Begutachtung ihres Werks reicht, dass dieser Sauerteig auch zum Brotbacken verwendet wurde. Nicht zum ersten Mal bedauere ich mein schütter werdendes Haupthaar und beginne, mich auf den nächsten Termin zu freuen. »Brot backen« war der Fokus im Journal Culinaire No. 15, vor immerhin acht Jahren. Es findet bis heute beständig neue Leser. Zahlreiche Anfragen erreichten die Redaktion, wann sich das Journal Culinaire endlich erneut mit dem Thema beschäftigen werde – wohl wissend, dass wir den Fermentationsthemen immer schon sehr aufmerksam gegenüberstehen. Die Zeichen für eine Sauerteigausgabe verdichteten sich zügig. Bei dieser Gelegenheit sei der Gesellschaft Deutscher Lebensmitteltechno-logen (GDL e.V.) ausdrücklich gedankt. Sie hat uns die Teilnahme (nicht nur) an ihren Sauerteigforen in Münster und Minden großzügig ermöglicht. In zahlreichen Fachvorträgen und durch den persönlichen Kontakt zu Forschenden ebenso wie Bäckerinnen und Bäckern nahm das Thema Konturen an. Mein großer Dank gilt Dr. Markus J. Brandt. Er war von den ersten Überlegungen an für eine Sauerteigausgabe involviert und hat wichtige Impulse bei der inhaltlichen Ausgestaltung gegeben – über seine eigenen Beiträge hinaus. Mit dem Freibäcker Arnd Erbel konnte ich vertrauensvoll auf die Suche nach beitragenden Bäckerinnen und Bäckern gehen. Auch ihm sei herzlich für Vertrauen wie Gespräch gedankt, ebenso allen Beitragenden, die ihr Wissen bereitwillig und engagiert ausgebreitet haben. Das Journal Culinaire No. 31 »Sauerteige« ist wiederum nur ein Anfang. Es lässt sich noch so viel mehr über Sauerteige berichten und diskutieren; mit Sicherheit wird in Bälde mehr im Journal Culinaire zu lesen sein. Eine persönliche Bemerkung zum Abschluss. Vor gerade fünfzehn Jahren lernte ich Ursula Hudson kennen, die auf ihre zahlreichen Reisen immer einen Sauerteig mitnahm. Sie hatte Jahre zuvor, als ihr ein schon damals betagter Sauerteig aus einer privaten Tradition angetragen wurde, schnell verstanden, dass in ihm das Potenzial nicht nur für ihre eigene Ernährungskompetenz schlummert. Ihre Erfahrungen mit ihrem Sauerteig hätte ich gerne für das Journal Culinaire gesichert. Das ist nicht gelungen. Ursula ist im Juli nach langer, bewundernswert getragener Krankheit gestorben. Ich werde mehr als nur ihre Sauerteig-Erzählung auf Dauer schmerzlich vermissen. Halten Sie es mit dem Journal-Culinaire-Lesen wie mit einem vitalen Sauerteig: Frischen Sie Ihren Lesegenuss zur passenden Zeit an.
Aktualisiert: 2021-01-28
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journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
Die Natur im Jahr 2020. Das Frühjahr bescherte uns Regen. Langen, ergiebigen Regen, der die Stauseen und Trinkwassertalsperren füllte und den nach zwei heißen Jahren erschreckend niedrigen Grundwasserständen Erholung brachte. Und es gab Wind, unglaublich intensive, nicht enden wollende Phasen von mächtigen Böen. Jetzt, eine Woche vor Ostern, nach einigen der kältesten Nächte des gesamten Winters, die die jungen Hortensientriebe zu raschelnden Teeblättern gefriertrocknen ließen, bricht sich die Vegetation kraftvoll Bahn. Die Obstbäume erscheinen in ihrer Blüte so weiß wie im ganzen schneelosen Winter nicht. In den Wäldern leuchten Teppiche von Buschwindröschen. Vereinzelt steht schon Wiesenschaumkraut an den Feldrainen. Überall der süße Duft knospender Buchen in der milden Luft, die kleinen lapschigen Händchen der Kastanienblätter flattern hellgrün in sanfter Brise. Während die Natur verlässlich und beharrlich ihren Zyklen folgt, ist das Leben der Menschen von einer Pandemie bedroht und dominiert. Die verordneten massiven Einschränkungen im öffentlichen Leben stellen die Zukunft vieler Betriebe und Existenzen infrage. Sie ziehen weitreichende Folgen im privaten und sozialen Zusammenhalt mit und nach sich, tägliche Routinen ebenso betreffend wie langfristige Lebensplanungen. Nicht nur wegen der Unsichtbarkeit des Erregers und der langen Inkubationszeit kann der Einzelne nur schwer das Risiko einschätzen, dem er alltäglich ausgesetzt ist oder sich bewusst aussetzt. Eigentlich sehen wir uns mit solchen Fragen alltäglich und dauernd konfrontiert. Doch die meisten Risiken für unser erhofft langes und gesundes Leben haben wir im Laufe der Jahre in den Alltag integriert, um nicht zu sagen: hineinverdrängt. Die Gefahren der täglichen und Urlaubs-Mobilität, die Unwägbarkeiten mancher Sportaktivitäten, die Fülle der bakteriellen und viralen Krankheiten, der sich die Menschheit ohnehin ausgesetzt sieht, die zunehmende Resistenz von Keimen gegen Medikamente – und nicht zuletzt die realen Gefahren, die beim Verzehr vieler Genuss- und Lebensmittel (auch, trotz und wegen der industriellen Lebensmittelproduktion) akzeptiert werden. Das muss nicht immer so spektakulär geraten wie beim japanischen Kugelfisch oder bei bewusstseinserweiternden Pilzen. Rohwurst und Rohschinken, Rotschmiere und andere Hefen und Pilze beim Käse; viele andere Beispiele auf der Schwelle zwischen Haltbarmachung und Geschmacksgewinn sind potenziell heikel. Dass wir diese Dinge recht entspannt in unser Leben einlassen, liegt an durchaus richtigen (oder gelegentlich auch irrigen, aber folgenlosen) Einschätzungen der von ihnen ausgehenden Gefahren. Wie wir uns entscheiden, hängt von vielen Faktoren ab und geht nicht selten ebenso von problematischen Annahmen aus wie von einer geschönten Sicht auf die Folgen. Das wird uns in Bezug auf Covid-19 gerade auf harte Weise schmerzlich bewusst. Ein pragmatischer, routinierter Weg zu einem auch langfristig sachgerechten Umgang mit dem Virus wird Geduld und Zeit erfordern. Und die Folgen sind in ihrem Ausmaß überhaupt noch nicht zu überblicken. Bislang hatte das Journal Culinaire nur für zwei Themenfelder gleich zwei Ausgaben benötigt: Kakao und Eier. Beide haben sich als überaus ertragreich erwiesen. In der nun vorliegenden Ausgabe No. 30 »Bier trinken« hat das Journal Culinaire zusammen mit der No. 29 »Bier brauen« nicht weniger als zwanzig Beiträge versammelt, in denen sich Wissen und kulturelles wie wissenschaftliches Engagement verdichten. Nochmals sei Dr. Martin Zarnkow und Philipp Overberg als Berater wie Beiträger herzlich gedankt.
Aktualisiert: 2020-11-27
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journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
Ich habe mir mit Bier wirklich viel Mühe gegeben. Mitte der 1980er Jahre arbeitete ich mich systematisch durch die Bestände eines ordentlichen Getränkehändlers. Schließlich konnte ich zwar sagen, welches Bier mir am besten schmeckt. Doch ist Bier nie wirklich zu »meinem« Getränk geworden. Das verwunderte und irritierte nicht wenige Weggefährten, lebe ich doch in einer recht flachen Landschaft, mehrere hundert Kilometer entfernt von den nächsten Weinbergen. Aber das Bier, das mir am besten geschmeckt hatte, wurde auch nicht in der Nähe gebraut. Die in meiner Region vornehmlich konsumierten Standardbiere stammen aus den bekannten Riesenbrauereien. Zwischen Qualität und Größe gibt es überhaupt keinen negativen Zusammenhang – wenn man unter Qualität Fehlerfreiheit und Geschmackskontinuität versteht. Legendär ein Bonmot über die Erzeugnisse der mittlerweile im Zuge vieler Fusions- und Konzentrationswellen verschwundenen Münsteraner Brauerei Germania, man könne ihr Bier trinken, wenn man schon knülle sei. Und den männlichen Gemeindemitgliedern im oberpfälzischen Irchenrieth – dem Geburtsort meines Großvaters väterlicherseits – graust es wahrscheinlich noch heute, wenn sie nur daran denken, dass sie die halbwegs gelungenen Biere der örtlichen Minibrauerei in einer konzertierten Aktion in der Dorfgaststätte austrinken mussten, bevor ein frischer (und vielleicht besser gelungener) Sud in die Gläser und auf den Tisch kam. Diese Brauerei ist allerdings schon so lange vergangen wie die Erzählung alt: Sie stammt aus dem Jahr der ersten Mondlandung. Seither hat sich viel getan, nicht nur technologisch und bei der Ausbildung von Mälzern und Brauern. Früher war nicht alles besser. Doch auf einmal wird Bier auch für den interessant, der bislang sein Näschen hob und krauste. Selbsternannten und tatsächlichen Könnern gelingt es in unzähligen kleineren und größeren Unternehmungen – unter Einhaltung oder willentlicher Übertretung des wahlweise fünf- oder doch erst einhundertjährigen »Reinheitsgebots« – überaus vielfältige und anregende Getränke zu brauen. Von »ziemlich schräg« bis »erstaunlich lecker« ist alles im facettenreichen Angebot. Das gefällt den Großen der Branche nicht wirklich, und angesichts des allgemein stagnierenden Bierkonsums vermehrt sich schneller als gedacht auch ihr Portfolio, wobei gelegentlich das individualisierte Äußere der Verpackung in Spannung zum mehrheitsfähigen Inneren steht. Tieferes Wissen über das Bierbrauen ist allgemein vermutlich dünn gesät. Zeit für das Journal Culinaire, sich des Themas anzunehmen und einige Schneisen in einen Themenblock zu fräsen, den unzählige Generationen brauender Menschen angereichert und fest gefügt haben. Das soll in zwei Ausgaben geschehen. In der vorliegenden No. 29 des Journal Culinaire liegt der Schwerpunkt auf dem Brauen selbst, in der folgenden No. 30 widmen wir uns stärker der mit dem Bier verknüpften Kultur.
Aktualisiert: 2020-11-27
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journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens

journal culinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens von Vilgis,  Thomas, Wurzer-Berger,  Martin
In meiner Kindheit galt Lachs als Edelfisch. Er kam nur zu festlichen Anlässen auf den Tisch. 1966 drehte Eugen Schuhmacher den Tierfilm »Alaska – Wildnis am Rande der Welt«. Alljährlich zur Hauptlaichzeit der Lachse finden sich Kodiakbären an den Flüssen der gleichnamigen Insel ein. Sie erweisen sich als geschickte Fischer und ernähren sich über Wochen ausschließlich von Lachsen. Schumacher zeigt die fischenden Bären mit dokumentarischer Präzision und in filmischer Exzellenz. Ihm bleibt nicht verborgen, dass sich einige Kodiakbären im Laufe der Lachssaison spezialisieren. Mit ihrem erfolgreichen Fang trotten sie zum Ufer, legen ihn ab, halten ihn mit der einen Tatze und schlitzen ihm mit einer Kralle der anderen den Bauch auf. Dann fressen sie ausschließlich den orangerot leuchtenden Rogen. Das ist beeindruckend. Wie verschwenderisch die Bären mit den überaus schmackhaften Lachsen umgehen (und wie gierig machen sich Raubvögel über die Reste der Lachse her)! Und wie außergewöhnlich der Rogen munden muss, wenn sie ihn über alles wertschätzen! Nicht nur die Bären, auch die kraftvollen Fische faszinieren. Sie überwinden Stromschnellen, auch kleine Wasserfälle, um zu ihren Laichplätzen zu gelangen. Sie erzeugen Nachkommen in Fülle. Nur wenige überleben und finden zurück ins Meer. Die meisten werden Opfer für andere Tiere in der Nahrungskette. Das steht in Spannung zur Einschätzung vieler Menschen, die ein artgerechtes Leben für jedes Individuum erstrebenswert halten. Das Reich der Tiere führt andere, lebens- und realitätsnahe Prämissen vor Augen. Meine Mutter briet nicht häufig, doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, grüne Heringe. Das geschah meist draußen oder in der Garage, weil sie den durchdringenden fischigen Bratgeruch nicht im Haus haben wollte. Gelegentlich fiel eine kleine Delikatesse für uns Kinder ab. Bei ihnen mussten wir uns nicht mit den kleinen Gräten plagen. Vor ihnen hatten wir keine Angst, aber sie hemmten das Fortkommen beim Essen doch erheblich. In der Laichzeit der Heringe gab es nämlich auch deren Rogen und Melcher. Sie wurden mehliert und in der Pfanne ausgebacken. Beliebter war der Melcher. Er schmeckte gebackenem Gehirn nicht unähnlich, das des Öfteren dienstags abends auf den Tisch kam und ganz hoch im Kurs stand. Der Rogen hatte es schwerer. Meiner Erinnerung nach wirkten die kleinen Eier immer ein wenig »risselig«, ein nicht unbedingt positiv besetztes Mundgefühl. Das sind zwei Erinnerungen mit Fischeiern, die sich mit dem Thema des Journal Culinaire No. 28, »Eier, nicht nur von Fischen«, einstellten. Die meisten werden eigene Erfahrungen mit Fischeiern beisteuern können. Forellen-, Lachsforellen- und Lachsrogen mit ihrer leuchtenden Farbe dürften weithinbekannt sein, vielleicht auch noch der Saiblingsrogen. Tobiko, der gelegentlich leuchtend eingefärbte, überaus knackige Rogen von Fliegenden Fischen (Exocoetidae), ist Sushifreunden bekannt. Wenn erst jetzt der »Deutsche Kaviar« genannt wird, hat das etwas mit seiner Bezeichnung zu tun. Er wird von Seehasen gewonnen (Cyclopterus lumpus) und nimmt erst durch die tiefschwarze Färbung eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit dem Rogen vom Stör an, der die Bezeichnung Kaviar ausschließlich tragen darf. Das Journal Culinaire setzt beim Erkunden des Kaviars auf bewährte Zugänge, erweitert bei dieser Gelegenheit aber auch sein Streckennetz. Sorgfältigen historischen, fachlichen und Herstellungsinformationen stellen wir zum ersten Mal eine Verkostung zur Seite: Im Januar 2019 versammelten sich neun Personen im Sensoriklabor der Fachhochschule Münster zur Kaviarverkostung. Methode und Ablauf sind in diesem Journal Culinaire dokumentiert. In ausgewählten Notizen setzen die Teilnehmer ihre Geschichte mit Kaviar mit den Erfahrungen aus der systematischen Verkostung in eine produktive Beziehung. Den thematischen Abschluss des Themas Kaviar hätten die internationalen Bemühungen um einen Wiederbesatz der europäischen Flüsse mit dem Stör sein sollen. Dazu wird auf die kommende Ausgabe des Journal Culinaire verwiesen. Damit sind der Fischeier noch immer nicht genüge getan. Es folgen der experimentell-theoretische Blick auf das sensorische Erleben beim Essen von Fischrogen sowie drei Arbeiten des Kochs Thoru Nakamura. Abschließend blicken wir mit Schneckeneiern, der unglaublichen Vielfalt von Vogeleiern und dem Spezialfall der Enteneier auf ein breiteres Spektrum eierlegender Lebewesen. Wir wünschen Ihnen ertragreichen Lesegenuss!
Aktualisiert: 2020-11-27
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