Josef Geiger (1923-2016) Lebenserinnerungen

Josef Geiger (1923-2016) Lebenserinnerungen von Schneider,  Herbert
VORWORT DES HERAUSGEBERS Das hier vorgelegte Buch soll innerhalb der Familie Manz die Erinnerung lebendig halten an einen ungewöhnlichen Vater, Großvater und Urgroßvater. Daneben ist es auch ein bemerkenswertes Zeitdokument. Der hier als Zeitzeuge vorgestellte Josef Geiger aus Bad Buchau erzählte mir sein Leben in den Jahren 2014 bis 2016. Er hatte so viel erlebt und innerlich gespeichert, dass er „ohne Punkt und Komma“ stundenlang erzählen konnte. Von mir als dem Herausgeber wurden die Mitteilungen dokumentiert, geordnet und in eine lesbare Form gebracht. Ohne irgendeinen literarischen Anspruch berichten die Erinnerungen aus einer uns bereits fern erscheinenden, längst vergangenen Welt. Bekanntlich haben sich unsere Lebensbedingungen noch nie so rasant verändert wie heute und so legt die Erzählung Zeugnis ab und hält die Erinnerung wach v. a. an Alt-Buchau und seine Menschen. Geschildert wird ein schwieriges Leben, oft lakonisch, manchmal auch emotional, dabei faktenreich und detailfreudig. Es ist ein ungewöhnliches Schicksal. Nicht zum kleinsten Teil geht es dabei um Ausgrenzung, Hunger, Armut, traumatische Kriegserlebnisse und um schlechte bis unmenschliche Arbeitsbedingungen, kurz, es ist „eine Geschichte von unten“. Josef Geiger lernt seinen Vater nie kennen. Im Alter von fünf Tagen kommt er weg zu Verwandten, nämlich zum Urgroßvater und dessen zweiter Frau in Buchau. Die Mutter kümmert sich auch in späterer Zeit nie mehr um ihn. Seine Kindheit in den 20er und 30er Jahren ist überschattet von wirtschaftlicher Not und fehlender Zuneigung. Die Erinnerung an Alt-Buchau, speziell an die ehemaligen Bewohner der Weiherstraße und des Johannisbergs, bietet einen Einblick in die soziologische Struktur eines kleinstädtisch-provinziellen Mikrokosmos. Es ist eine Welt der kleinen Leute, mit starrer sozialer Kontrolle wie in einer Dorfgemeinschaft. Thematisiert wird auch das alltägliche Zusammenleben der Mehrheitsgesellschaft mit den Juden in Buchau. Mit 14 Jahren vermittelt ihn das Jugendamt in eine landwirtschaftliche Lehre bei einem Bauern im benachbarten Dorf Sattenbeuren. Der Lehrherr ist zwar prinzipiell korrekt, dabei aber geizig und die Arbeitsbelastung muss aus heutiger Sicht als Ausbeutung bezeichnet werden. Die fast archaisch anmutenden Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft der 1930er Jahre werden geschildert. Mit 18 Jahren kommt die herbeigesehnte Einberufung zur Wehrmacht. Es folgen mehr als drei Jahre in der Kriegsmaschinerie, zuerst in Frankreich, dann 5 als Infanterist an vorderster Front in Russland und zum Schluss im Westen bei der mörderischen Ardennenoffensive. Diese Kriegserlebnisse nehmen breiten Raum ein. Das NS-Regime mit seiner menschenverachtenden Ideologie wird bloßgestellt. Und es wird uns Wohlstandsbürgern gezeigt, unter welch unsäglich lebensfeindlichen Bedingungen die menschliche Kreatur doch überleben kann. Es gilt der alte Spruch: „Bei Nörgeln und Klagen, nur drei Tage Schützengraben“! Zwei Jahre in englischer Gefangenschaft schließen sich an. Nach Hause zurückgekehrt, arbeitet er zuerst unter schwierigen Bedingungen im Schussenrieder Torfwerk. Ausführlich wird berichtet von der Torfbrikettfabrik und vom Handtorfstich. Nach Schließung der Torfbrikettfabrik findet er eine Stelle bei der GEA, der Gesellschaft für elektrische Anlagen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um lebensgefährliche Arbeiten auf Strommasten. Es folgen 23 Jahre im Schwäbischen Hüttenwerk in Schussenried, überwiegend in der Gießerei, eine Arbeit in Schmutz, Hitze und atemraubenden Dämpfen! Im Alter von 36 Jahren erleidet er unverschuldetermaßen auf dem Heimweg von der Arbeit einen schweren Verkehrsunfall, der ihn für mehr als 3 Jahre arbeitsunfähig macht und mit dessen Folgen er bis zu seinem Lebensende zu kämpfen hat. Es verdient Respekt, wie hier ein hartes Arbeitsleben trotz der Folgen des schweren Arbeitsunfalls bis zur Berentung im 60. Lebensjahr durchgehalten wird! Aus heutiger Sicht müssen die Arbeitsbedingungen auch noch nach dem Krieg als haarsträubend schlecht und zum Teil als kriminell bezeichnet werden, dies gilt speziell für die GEA mit lebensgefährlichen Arbeiten auf Strommasten, aber auch für die Gießerei in Schussenried. Insgesamt kann man sich, volkstümlich ausgedrückt, nur wundern, „was der Mensch alles aushält“! Im Lebenslauf von Josef Geiger entfaltet sich, stellvertretend für eine ganze Generation, ein farbiges Panorama deutscher Geschichte im Kleinen, beginnend unter schwierigsten Rahmenbedingungen in der Weimarer Republik, fortgesetzt im Dritten Reich mit sinnlosem Krieg und Untergang. In der Bundesrepublik dann unter zunehmend besseren Umständen ergibt sich auch für den bisher immer Benachteiligten eine Besserung der Lebensumstände mit der Möglichkeit des Aufbaus einer bürgerlichen Existenz und der Familiengründung. Nach 60jähriger Ehe ist Herr Geiger seit 2009 verwitwet und alleinstehend, allerdings liebevoll unterstützt von seinen beiden Töchtern und deren Familien. Ein Hinweis ist wichtig: Vorsicht ist geboten bei der Beurteilung von Personen im Dritten Reich. Ein hier im Buch vorgestellter „Nazi“ ist vielleicht der schon 6 längst verstorbene Großvater oder Urgroßvater eines heutigen, bekannten Trägers des gleichen Namens! Im Übrigen sollte man sich immer ehrlich fragen, wie man sich selbst wohl im Dritten Reich verhalten hätte? Bekanntlich kann man aus Erfahrungen früherer Generationen lernen. Im größeren Rahmen ist es die Geschichte der Menschheit, im kleineren die Geschichte der Familie. Familienüberlieferungen wirken in den Erlebnishorizont jedes Einzelnen ein. Dies kann erfolgen über sprachlich weitergegebene Erfahrungen der Eltern und Verwandten oder sogar auch durch epigenetische Veränderungen im Erbgut. In Würdigung der weitergegebenen wichtigen Erfahrungen der Vorfahren huldigten frühere Zivilisationen nicht selten einem Ahnenkult. Die Möglichkeit der direkten Weitergabe des Wissens hat den Aufstieg des Homo sapiens begründet. Heute sind wir beim Gegenteil des Ahnenkults angelangt, die Internet-Affinität der jungen Generation und der Glaube an den unaufhaltbaren technologischen Fortschritt beherrschen die Szene, ist doch praktisch das gesammelte Wissen der Menschheit im Internet abrufbar. Das Wissen der Alten ist nicht mehr gefragt. Und doch kann sich niemand von der Geschichte seiner Herkunftsfamilie und seines Gemeinwesens ganz frei machen. Tagebücher und Autobiographien können wertvolle Zeugnisse der Alltags- und Sozialgeschichte darstellen. Im deutschen Sprachraum spannt sich der Bogen von den 5200 eng beschriebenen Seiten mit autobiographischen Aufzeichnungen des Hermann von Weinsberg im Köln des 16. Jahrhunderts bis zu den umfangreichen Beständen des deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen. Eine Auswahl von Lebenserinnerungen aus Oberschwaben ist als Anhang beigefügt. An dieser Stelle eingefügt sei die Aufforderung und Ermunterung zum Schreiben der eigenen, höchstpersönlichen Lebensgeschichte! Für spätere Generationen können Zeugnisse zur Lokalgeschichte durchaus wertvoll sein und vielleicht freut sich später einmal ein Nachkomme der eigenen Familie über derartige Nachrichten aus einer vergangenen Welt! Aus der Jugendzeit von Josef Geiger gibt es nur drei Fotos. Zum einen ein Bild der Schulklasse 1931, dann ein Foto mit der Pflegemutter vor dem Haus in der Weiherstraße und schließlich eines, das den 5jährigen im geliehenen Matrosenanzug zeigt, den Fotografen bezahlt hatte die Pflegetochter Berta. Durch die Gliederung in über zehn Kapitel entstehen kurze, in sich geschlossene Leseabschnitte. Bei den Besonderheiten des Schicksals von Josef Geiger dürfte es wohl gerecht7 fertigt sein, diese Biographie nicht nur im Familienbesitz zu halten, sondern der Öffentlichkeit vorzustellen. Naturgemäß wird diese Dokumentation nur wenige, in der Regel örtliche, Interessenten finden. Vielleicht geben aber diese Erinnerungen eines fernen Tages einem interessierten Bürger oder auch einem Geschichtslehrer ein bisschen Material an die Hand zur Illustrierung der Alltags- und insbesondere der Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts am Beispiel eines oberschwäbischen Landstädtchens. Der heutige Leser hat wenig Zeit zur Verfügung und die Dokumentation dieses Lebens ist zugegebenermaßen sehr umfangreich geraten. Für eventuelle Leser aus Buchau dürften die Kapitel „Kindheit in Buchau“, „Juden in Buchau“ und „Neuanfang in der Heimat“ am ehesten von Interesse sein. Leser aus Schussenried finden Informationen zu den Themen „Arbeit beim Bauern in Sattenbeuren 1937 – 1941“, „Arbeit im Torfwerk“ und „Arbeit im Schwäbischen Hüttenwerk“. Speziell diese letzteren drei Abschnitte sind eher sehr ausführliche Dokumentationen der damaligen Arbeitswelt als eine erzählende Autobiographie und sind durch ihre Länge sperrig und mühsam zu lesen. Dagegen sind die Kriegserlebnisse von Josef Geiger in den Kapiteln „Soldatenzeit“ und „Englische Gefangenschaft“ von allgemeinem Interesse, sie sind dramatisch, grauenhaft und führen zum Nachdenken über die Menschheit. Erinnerungen können sehr täuschen. Das Erlebte wird in unserem Gehirn nicht auf einer Festplatte abgespeichert, sondern es ist zu einem gewissen Teil veränderlich. Die Erinnerungen wandeln sich insbesondere durch mehrfaches Erzählen und mit größerem Abstand zum Erlebten. Wenn ein (Zeit-) Zeuge befragt wird, so können die Antworten auch von der Art der Fragestellung abhängen. Historiker stehen deshalb der „oral history“ skeptisch gegenüber, sie warnen: „Traue keinem Zeitzeugen, der nicht objektive Beweise für das Gesagte bringen kann“! Oder: „Der größte Feind des Historikers ist der Zeitzeuge“!
Aktualisiert: 2023-03-16
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