Mendelssohns Paulus

Mendelssohns Paulus von Albrecht-Hohmaier,  Martin
Am 20. Juli 1836 schreibt Felix Mendelssohn Bartholdy in einem Brief an Ignaz Moscheles: "Lieber Freund, [.] wie das Oratorium gewesen ist, weißt du nun schon lange durch mündliche Erzählung; mich hat vieles während der Aufführung erfreut, vieles verstimmt, und bis jetzt noch arbeite ich an einzelnen Stellen des Clavier=Auszugs, der nun bald erscheinen soll, und der Partitur, weil manches meine eigentliche Idee gar zu wenig ausspricht, ihr nicht einmal andeutend nahe kommt. Du hast mir das Verändern abgerathen, und ich sehe den Schaden ein, den es haben muß, dennoch kann ich es nicht lassen wenigstens zu versuchen, ob ich nicht in allen Stücken, oder doch wenigstens in den meisten, meinen Gedanken so deutlich aussprechen kann, wie mirs in einzelnen geglückt ist, an denen ich denn freilich nichts zu verändern habe." Diese Haltung Mendelssohns zu einer Überarbeitung bzw. Veränderung noch nach der Uraufführung des Paulus am 22. Mai 1836 in Düsseldorf und ein Blick auf die Quellenlage machen deutlich, daß eine Beschäftigung mit der Entstehung dieses Werks eine interessante Aufgabe ist. Es gibt zahlreiche Vorstufen des Librettos unterschiedlicher Autoren (Julius Schubring, Adolf Bernhard Marx, Julius Fürst) und einen beträchtlichen Anteil musikalischer Quellen zum Paulus, vor allem in den Bänden des Mendelssohn-Nachlasses in Berlin und Krakau. Die Beschäftigung mit der Genese eines oratorischen Werks kann an mehreren Stellen beginnen, z. B. bei der Suche nach dem Stoff der Handlung (war es ein Auftragswerk oder ein Anliegen des Komponisten ohne äußeren Anlaß?), bei der Arbeit am Libretto und dessen Vertonung (wer hat welche Inhalte beigetragen? Was ist die Textgrundlage? Wie geht der Komponist mit dem Libretto um?), bei den Vorgaben im Hinblick auf die Uraufführung oder den biographischen Hintergründen (was sind die in diesem Fall meist außermusikalischen Zusammenhänge und Voraussetzungen?). Die Entscheidung für eine oder mehrere dieser Möglichkeiten hängt neben den eigenen Interessen nicht zuletzt von der veränderten Forschungssituation ab. Wie auch die meisten anderen Werke Mendelssohns war das Oratorium Paulus lange Zeit – bedingt vor allem durch die Folgen des Antisemitismus – nur höchst selten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Mendelssohn selbst war schon als Kind Zeuge antisemitischer Begebenheiten, Richard Wagner stellte Meyerbeer und Mendelssohn (nach dessen Tod) ins Zentrum seiner 1850 anonym veröffentlichten Schrift Das Judentum in der Musik, und während des Dritten Reichs war Mendelssohns Musik weitgehend aus dem Konzertbetrieb verbannt, eine vorurteilsfreie öffentliche Beschäftigung mit seinen Werken nicht möglich. Dies wirkte auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Erst 1978 erschien die Dissertation von Arntrud Kurzhals-Reuter, die sich erstmals allein dem oratorischen Schaffen Mendelssohns aus philologischer und werkgenetischer Sicht widmete. Bedingt durch die politischen Verhältnisse ihrer Zeit waren allerdings die zentralen musikalischen Quellen der Nachlaßbände 53, 54 und 55 in der Bibliotheka Jagiellonska in Krakau nicht zugänglich. In der Folge entstanden Aufsätze unterschiedlicher Autoren zu einzelnen Teilaspekten, aber erst in den letzten Jahren sind einige umfangreichere Arbeiten und Dissertationen zu Mendelssohns Oratorien entstanden bzw. begonnen worden. Der Fokus liegt bei einigen davon ebenfalls auf dem philologischen Material und der Werkgenese. Unter diesen Arbeiten hervorzuheben sind die kontinuierlich erschienenen Texte von Erich Reimer und die amerikanische Dissertation über den Paulus von Siegward Reichwald. Gerade die zuletzt genannte, im Jahr 2001 erschienene Arbeit deckt einige der Bereiche wie die Schilderung der biographischen Hintergründe der Entstehung und deren Dokumentation anhand von Briefen ab, so daß diese hier nicht mehr dargestellt werden müssen. Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist es, die Genese des Werks philologisch zu untersuchen sowie die daraus gewonnenen Ergebnisse für musikalische Analysen und die semantische Interpretation zu nutzen. Dabei zeigt sich, wie zu erwarten war, daß bei der Entstehung des Paulus der Text von primär inhaltlicher Bedeutung ist, während ab dem Moment, wo die Vertonung beginnt, die musikalische Gestaltung im Mittelpunkt steht. Philologie und Analyse ergänzen sich dabei wechselseitig, denn die Analyseergebnisse können helfen, philologische Probleme zu lösen, und philologische Entdeckungen stützen häufig die Analyse, erschließen mitunter sogar neue Ansätze. Im folgenden wird darauf verzichtet, das Werk chronologisch Satz für Satz durchzugehen und alle Analysen bzw. philologischen Ergebnisse aufzulisten. Statt dessen erfolgt die Darstellung exemplarisch, d. h. es werden nur solche Sätze, Abschnitte oder Passagen näher betrachtet, die im Hinblick auf ihren formalen Aufbau oder die Genese besonders interessant sind, während auf andere Sätze, deren Untersuchung keine neuen Erkenntnisse offenbart, nicht näher eingegangen wird. Das bedeutet, daß eine Konzentration auf diejenigen Quellen notwendig war, die innerhalb der Genese signifikante Differenzen aufweisen, und daß einige nur eine marginale Rolle spielen konnten. Nichtsdestotrotz werden alle derzeit bekannten Quellen im Materialteil dieser Arbeit aufgeführt und beschrieben. Die umfangreiche philologische Präsentation soll zudem Hilfsmittel und Anreiz für die weitere Beschäftigung mit den beiden Werken Paulus und Mose sein. Der erste Teil dieser Arbeit ist zunächst nach Binnengattungen gegliedert, d. h. die exemplarische Darstellung der Ergebnisse folgt den Satztypen Choral, Chor, Sologesang und Rezitativ. Im Anschluß daran geht es um das biographisch, musikalisch und gattungsgeschichtlich sehr interessante Verhältnis zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Adolf Bernhard Marx. Die beiden Jugendfreunde hatten gegenseitig Libretto-Entwürfe für ihre Oratorien Paulus bzw. Mose verfaßt, sich aber darüber vollkommen zerstritten, und die beiden Werke stellen letztendlich mustergültige Beispiele entgegengesetzter ästhetischer Haltungen dar. Dieses Verhältnis wird in drei Schritten untersucht, nämlich anhand der Briefe von Marx an Mendelssohn (die Gegenbriefe sind nicht erhalten) sowie eines Vergleichs der Libretti und der Vertonungen. Abschließend präsentiert der Materialteil Transkriptionen und Kollationierungen der Libretti und ihrer Vorstufen, Quellenbeschreibungen und tabellarische Übersichten sowie Transkriptionen bislang unveröffentlichter Briefe von Marx und Ferdinand Hiller an Mendelssohn. Den Aspekt des Einflusses durch vorangehende Komponisten klammere ich weitgehend aus. Selbstverständlich werden an mehreren Stellen mögliche Bezüge etwa zu Bach zur Sprache kommen, aber nicht als Ausgangspunkt oder Beispiel einer wie auch immer gearteten Übernahme, sondern als Folie zur Verdeutlichung von Kontrasten oder Ähnlichkeiten. Alles andere bedürfte einer theoretischen bzw. methodologischen Diskussion, die Thema anderer Dissertationen ist. Darüber hinaus gibt es bereits Arbeiten, die beispielsweise der Frage nach möglichen Rückschlüssen von Mendelssohns „Version“ der Matthäuspassion auf seine eigenen Werke nachgehen – worauf ich allerdings zurückkomme – oder sein aktives Engagement für die philologische Aufarbeitung und Aufführung der Oratorien Händels untersuchen, dem eine editorische Haltung zugrunde liegt, die sich an den Originalen bzw. Autographen orientiert und die Eingriffe des Herausgebers auf ein notwendiges Minimum beschränkt. Mendelssohn hat sich, wie schon oft zitiert, gelassen zum Vergleich mit möglichen historischen Vorbildern geäußert: "Hat es Ähnlichkeit mit Seb. Bach, so kann ich wieder nichts dafür, denn ich habe es geschrieben, wie es mir zu Mute war, und wenn es mir einmal bei den Worten so zu Mute geworden ist, wie dem alten Bach, so soll es mir um so lieber sein. Denn Du wirst nicht meinen, daß ich seine Formen kopiere, ohne Inhalt, da könnte ich vor Widerwillen und Leerheit kein Stück zu Ende schreiben." Eine philologisch-analytisch ausgerichtete Arbeit abzuschließen, in deren Mittelpunkt das Oratorium Paulus von Mendelssohn steht, birgt das große Risiko, schneller zu veralten als andere: nicht nur wegen der sukzessive in Auktionshäusern auftauchenden Manuskripte (die leider nach der Versteigerung meist wieder in privaten Sammlungen verschwinden, für die Forschung unzugänglich bleiben und höchstens über Abbildungen in den Auktionskatalogen eingeordnet werden können), sondern auch wegen des umfangreichen Quellenmaterials, von dem nur bekannt ist, daß es existiert hat. Dazu gehören u. a. die Stichvorlagen und die für die Uraufführung gedruckten sehr zahlreichen Chorstimmen. Eine Ergänzung der hier vorgelegten Forschungsergebnisse aufgrund neuer Quellenfunde ist daher zu erwarten.
Aktualisiert: 2022-12-31
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