Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet

Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet
ZWISCHEN DAUERHAFTIGKEIT UND UTOPIE Venedig schöpft sein Wesen aus seiner Beziehung zum Wasser. Doch diese Beziehung ist nicht konfliktfrei. Die Stadt hat es einer jahrhundertealten Geschichte der technischen Entwicklung und Projektierung zu verdanken, dass die fragile, manchmal auch feindselige und ungesunde Umwelt der Lagune von Venedig heute bewohnbar ist.1 Dabei musste ihr Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung immer wieder mit Fragen des Umweltschutzes in Einklang gebracht werden. Die Lagune von Venedig befindet sich in einer fortwährenden Auseinandersetzung mit ihrer unbeständigen geografischen Beschaffenheit, auf Dauer dazu verurteilt, entweder im Meer zu verschwinden oder zu verlanden und eine Erweiterung des Festlands zu werden. Um dieses Schicksal abzuwenden, haben Menschen seit nunmehr 1.500 Jahren Flussläufe verändert, ganze Landstriche trockengelegt, Wasser gepumpt, Schlamm verfestigt, Deiche, Kanäle, Molen, Dämme und Brücken gebaut. Von ihrem Wesen her in stetiger Veränderung begriffen, stellt die Lagune von Venedig eine unerschöpfliche Aufgabe der Instandhaltung dar: von den großen Anstrengungen der Ingenieursbaukunst der Republik bis zu den vielen kleinen Eingriffen der Fischer*innen, Müller*innen und Landwirt*innen, die seit Jahrhunderten die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen.2 Der Mythos der Natürlichkeit der Lagune hat viele gegensätzliche Vorstellungen von der territorialen Entwicklung der Republik Venedig hervorgebracht. Paradigmatisch dafür steht ein intellektueller Disput im 16. Jahrhundert zwischen dem berühmten Chefingenieur der venezianischen Wasserbehörde Magistrato alle Acque, Cristoforo Sabbadino, und dem wohlhabenden Großgrundbesitzer Alvise Cornaro.3 Sabbadino betrachtete Technologie als eine bewahrende Kraft, ein Werkzeug, um das hydrologische Gleichgewicht in der Lagune zu erhalten. Zu diesem Zweck ersann er Wasserbauprojekte spektakulären Ausmaßes auf dem Festland und sprach sich vehement dafür aus, den Lauf ganzer Flüsse zu verändern, um zu verhindern, dass sich Sedimente ansammeln, die zur Verlandung der Lagune führen könnten. Für Sabbadino war die Lagune Venedigs wichtigste Verteidigungsmauer – und je „unfertiger“ sie erschien, desto sicherer war sie in seinen Augen.4 Der Adlige Cornaro hingegen betrachtete Technologie als eine Kraft der Veränderung. Auf dem Anwesen seiner Familie bei Chioggia am südlichen Ende der Lagune experimentierte er mit Techniken der Landgewinnung, wofür er ohne Genehmigung Deiche anlegte, die später auf Anordnung des Magistrato alle Acque zerstört wurden. In seinem sturen Kampf für die Erhaltung dieser Deiche entwickelte Cornaro allmählich eine utopische Vision einer neuen, verwandelten Lagune mit einem schwimmenden Theater und einem künstlich geschaffenen Berg (vago monticello), der auf neu gewonnenem Land in der Mitte des Markusbeckens direkt gegenüber dem Dogenpalast errichtet werden sollte.5 Cornaros visionäre Idee lehnte sich an überlieferte Darstellungen einer anderen Lagunenstadt aus dem 16. Jahrhundert an: Tenochtitlán, die Hauptstadt des Aztekenreichs, deren beeindruckende Gestalt im 1528 vom venezianischen Kartografen Benedetto Bordone veröffentlichten Inselatlas Isolario abgebildet war.6 Tenochtitlán wurde inmitten des alten Texcoco-Sees errichtet, der später von den spanischen Kolonisatoren trocken­gelegt wurde, um Platz für Mexiko-Stadt zu schaffen. Ähnlich wie in Tenochtitlán und im Gegensatz zu Sabbadinos behutsamem Ansatz im Umgang mit der Lagune schlug Cornaro vor, letztere vollständig mit einem Deich zu umfassen, um das Land klar vom Wasser zu scheiden und lediglich eine der Mündungen offenzulassen, die die Lagune mit dem adriatischen Meer verbindet. Die vom umgebenden Wasser fast gänzlich „abgetrennte“ Lagune wäre – ein in sich geschlossenes Ökosystem – in Cornaros Vorstellung nicht nur gesünder, wohlhabender und besser geschützt, sondern auch schöner.7 Die mögliche Auswirkung ­seiner Vision auf die Beziehung zwischen ­Venedig und dem umgebenden Wasser zeigt sich am deutlichsten in Cornaros Verwendung eines neuen Ausdrucks, der durch Bordones Karte beeinflusst sein dürfte: die Lagune als „heiliger See“.8 Den meisten Venezianer*innen wäre jedoch instinktiv bewusst, dass solch eine Vision der engen ontologischen Beziehung zwischen der Stadt und ihrer Lagune zuwiderlaufen würde; nicht zuletzt, weil Venedig bis heute kein modernes Abwassersystem besitzt. Der Abtransport der Abwässer hängt immer noch stark davon ab, ob das Brackwasser in seinem täglichen Anstieg die gatoli (Abwassersystem aus gemauerten Hohlräumen und Rückhalte­becken unterhalb der Gehsteige) erreicht, um so das Abwasser zuerst in die Kanäle und dann weiter hinaus ins offene Meer zu spülen. ZWISCHEN FIXIERUNG UND TRANSFORMATION Sabbadinos und Cornaros gegensätzliche Visionen sind Ausdruck eines epochalen Wandels im kollektiven Verständnis von Venedig. Bis ins 14. Jahrhundert hinein war das städtische Wachstum Venedigs durch Zyklen der Land­gewinnung geprägt, bei denen die Grenzen der Stadt immer noch als dynamisch, provisorisch und instabil angesehen wurden. Erst zwischen 1530 und 1550 wurde dieser Ansatz infrage gestellt, auch durch die breitere Popularisierung von Bordones einflussreicher Darstellung der Stadt inmitten einer idealisierten, perfekt ovalen Lagune.9 Angefacht durch diese ikonografische Wende setzte sich im 16. Jahrhundert die Idee durch, die Beziehung zwischen der bebauten Fläche und dem Wasser dauerhaft zu fixieren. 1557 konzipierte Sabbadino ein umfassendes Programm zur Erweiterung und Festlegung der Grenzen der Stadt, im Rahmen dessen Stadterneuerungsmaßnahmen wie der Bau der nördlichen Uferbefestigung, der Fondamenta Nuove, in Gang gesetzt wurden. Zu dieser Zeit orientierte sich die Republik Venedig immer weniger Richtung Meer. Hintergrund dieser Entwicklung war der fortschreitende Bedeutungsverlust Venedigs als Seemacht durch die Erschließung neuer Handelsrouten am Ende des 15. Jahrhunderts, etwa die „Entdeckung“ Amerikas 1492 oder des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama 1498, und der damit verbundene Aufstieg neuer maritimer Mächte in Europa. Auf der Suche nach einem neuen politischen und ökonomischen Gleichgewicht richtete die Stadt ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf das Festland.10 Nach vielen großen wasserbaulichen Eingriffen, die im 17. Jahrhundert ausgeführt wurden – und von denen Sabbadino viele bereits vorgeschlagen hatte –, wähnte man die Lagune in Sicherheit vor den Sedimenten, die einst direkt von den Flüssen angespült wurden. Fortan begegnete die venezianische Regierung jedem Vorstoß einer räumlichen Erweiterung der Stadt mit einer konservativen Haltung, die darauf abzielte, jedwede mögliche Änderung am bestehenden Wasser- und Abwassersystem einzugrenzen. Die Magistrate der Republik befassten sich nunmehr weitgehend mit „einfachen“ technischen Instandhaltungsmaßnahmen. Diese Entwicklung gipfelte in der Festsetzung der Conterminazione Lagunare im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, welche die territorialen Grenzen der Lagune nach außen klar definierte und mit Grenzsteinen bis heute sichtbar markiert. Der definierte Bereich unterlag fortan der Zuständigkeit und administrativen Verwaltung des Magistrato alle Acque, innerhalb dessen die strengen Bestimmungen und Vorschriften zum Schutz der Lagune galten.11 Die administrative Konstruktion einer dauerhaften Stadtgrenze hatte zur Folge, dass von nun an alle planerischen Eingriffe in Venedig nur noch dem Zweck der Erhaltung, Verbesserung oder Anpassung dienen durften.12 Wir können nur spekulieren, wie sich die Magistrate verhalten hätten, wäre die Republik Venedig nicht 1797 in Napoleons Hände gefallen. Es ist allerdings klar, dass die unzulängliche Instandhaltung und der damit verbundene langsame Verfall der Lagune Ende des 18. Jahrhunderts unter französischer und später österreichischer Herrschaft einsetzten, die schlicht nicht über das Umweltbewusstsein und die technische Kultur verfügten, die venezianische Wasserbauingenieure über Jahrhunderte entwickelt hatten. Der tausend Jahre währende Inselstatus Venedigs wurde von den Österreichern 1846 mit der Einweihung der Eisenbahnbrücke über die Lagune abrupt beendet. Auch nach der Annexion Venedigs durch das Königreich Italien im Jahr 1866 verbesserte sich die Situation nicht wesentlich. So wurden unter italienischer Herrschaft viele Kanäle aufgefüllt und große Teile der Stadt abgerissen. Immer deutlicher wurde auch, dass die dauerhafte Notlage in der Wasserversorgung, welche eine Folge der jahrzehntelangen schlechten Instandhaltung der traditionell genutzten Regenwasserzisternen war, angegangen werden musste. 1884 wurde schließlich ein neues Aquädukt eingeweiht, welches nicht nur den jahrhundertealten Durst Venedigs nach Frischwasser löschte, sondern auch die Karriere des eigenwilligen Chefingenieurs der Stadt, Giuseppe Bianco, beendete. Er hatte zwischen 1857 und 1858 die ehrgeizige Unternehmung betrieben, eine detaillierte Erhebung von tausenden privaten und öffentlichen Regenwasserzisternen vorzunehmen. Es heißt, die Vorstellung des Aquädukts und das zeitgleiche Aufgeben der Zisternen hätten die psychische Erkrankung von Bianco so stark verschlimmert, dass er in die psychiatrische Anstalt auf der Insel San Servolo eingeliefert werden musste.13 Die Anekdote liest sich wie eine Warnung, dass jede große Innovation in Venedig unweigerlich der Eigenart und unvergleichlichen Struktur der Stadt Rechnung tragen muss. Heute übernimmt das städtische Unternehmen Insula S.p.A. – zu deren Gründungspartnern die Gemeinde Venedig und deren Versorgungsunternehmen gehören – die Instandhaltung der Stadt in einem umfassenderen Sinn: vom öffentlichen Wohnungsbau über die städtische Mobilitätsinfrastruktur bis hin zur Wartung der Kanäle.14 ZWISCHEN DESASTER UND GESETZGEBUNG Als die norditalienische Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte, durchlief das venezianische Festland weitere einschneidende Veränderungen, darunter riesige neue Projekte der Landgewinnung, bei denen sich Cristoforo Sabbadino sicher im Grabe umgedreht hätte. 1920 begannen die Arbeiten für die Errichtung eines ersten Industriegebiets, dessen ursprünglicher Kern heute als Porto Marghera bekannt ist und später mit der Erschließung eines zweiten Industriegebiets erweitert wurde. 1924 wurden 2.300 Hektar der Lagune für die landwirtschaftliche Nutzung aufgefüllt und 1933 eine Autobrücke parallel zur Eisenbahnbrücke eröffnet. Zwischen 1961 und 1969 wurde der Malamocco-Marghera-Kanal, auch unter dem Spitznamen Canale dei Petroli (Erdölkanal) bekannt, in der flachen Lagune ausgehoben, damit große Öltanker von der Mündung des Hafens von Malamocco die Raffinerien im Hafen von Marghera erreichen konnten. Mit dem Aushub wurden zwei künstliche Inseln aufgeschüttet, die für ein weiteres Industriegebiet bestimmt waren, welches jedoch infolge der Ölkrise von 1973 nie realisiert wurde. Die boomende Tourismusindustrie spielte eine wichtige Rolle in diesem neuen Prozess der Landgewinnung: Von 1960 an wurde ein großes Gebiet mit Salzmarschen am nördlichen Ende der Lagune aufgefüllt, um Platz für den nach Marco Polo benannten internationalen Flughafen zu schaffen. Auch das historisch empfindliche Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Lagune als Ökosystem und der traditionellen extensiven Aquakultur – die beide auf die natürliche Migration von Fischen durch die Lagune angewiesen sind – ist durch die wachsende Fischzucht aufgrund der hohen touristischen Nachfrage stark beeinträchtigt worden. (Heute schirmen rund 100 Quadratkilometer geschlossener Rückhaltebecken zur Fischzucht mehr als ein Sechstel der Gesamtfläche der Lagune ab.) Eine Umweltkatastrophe markiert Mitte der 1960er-Jahre das jähe Ende dieser Phase der Transformation mit ihren infrastrukturellen Großprojekten: In der großen Flut von Venedig 1966 versank die Stadt knapp 2 Meter unter Wasser und musste sich ihres desolaten Zustands bitter bewusst werden. Dieses tragische Ereignis löste eine heftige politische und soziale Debatte über eine ganze Reihe von Anliegen aus, die nicht nur die Altstadt, sondern den gesamten Ballungsraum betrafen. Dazu gehörten der Bevölkerungsrückgang in der historischen Altstadt, die fehlende Instandhaltung der Murazzi – der alten Befestigungsanlagen zur Seeverteidigung –, die zunehmende Vernachlässigung und Aufgabe kleinerer Inseln und das rücksichtslose Ausheben immer tieferer Kanäle, um die Durchfahrt größerer Schiffe zu ermöglichen. All diese Faktoren führten zu der weit verbreiteten Überzeugung, dass ein spezieller gesetzlicher Schutz der Umwelt und der Sozialstruktur der Stadt notwendig sei. Ironischerweise wurde drei Jahre vor der großen Flut mit den Nuove norme relative alle lagune di Venezia e Marano-Grado [dt. Neue Vorschriften in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado] bereits ein solches Gesetz beschlossen, das jedoch nie umgesetzt wurde.15 Erst 1973 hob das Sondergesetz Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs] die herausragende Bedeutung der Stadt Venedig für das nationale öffentliche Interesse hervor und räumte dem italienischen Staat Sonderrechte ein mit Bezug auf den Schutz des Ökosystems der Lagune sowie der Regulierung der Wasserwege und Gezeiten.16 1984 wurde mit dem Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs] ein weiteres Sondergesetz verabschiedet, das die staatliche Planung, Erprobung und Ausführung groß angelegter Instandsetzungsarbeiten zur Erhaltung der Lagune, zur Abwendung des weiteren Zerfallsprozesses und zum Schutz der Siedlungen vor Hochwasser festschrieb.17 Es wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die eine umstrittene Monopolkonzession an das Consorzio Venezia Nuova, ein Konsortium aus 26 Firmen aus dem Bereich des Wasserbaus und des Bauingenieurswesens, erteilte, die ihm wesentliche Planungs-, Steuerungs- und Entscheidungsbefugnisse überantwortete. Dadurch wurde der Magistrato alle Acque, der über Jahrhunderte eine machtvolle planerische und exekutive Instanz war, zu einem administrativen Dienstleister des Konsortiums degradiert. Ein drittes Sondergesetz von 1992 steckte schließlich den rechtlichen Rahmen für Infrastrukturmaßnahmen zur stärkeren Kontrolle der drei Öffnungen der Lagune ins adriatische Meer bei Lido, Malamocco und Chioggia ab, um massiven Überschwemmungen der Lagunenstadt in Zukunft vorzubeugen.18 In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das Großprojekt MOSE [Module Sperimentale Elettromeccanico, dt. Experimentelles Elektro-mechanisches Modul] vorangetrieben – ein äußerst kontroverses technisches Vorhaben, das die historische Altstadt mithilfe beweglicher Flutbarrieren an den Mündungen vor Hochwasser schützen soll. Das Sperrwerk, das nur im Falle von Sturmfluten mit einer Hochwassermarke von über 1,10 Meter (acqua alta) zum Einsatz kommt, unterbricht jedoch nicht die Gezeitenströmung in der Lagune, um das Funktionieren des empfindlichen Ökosystems sowie auch das spezielle Abwassersystem der Stadt zu erhalten. Obwohl noch nicht vollständig fertiggestellt, ist MOSE bereits einsatzfähig und hat gezeigt, dass es Venedig erfolgreich vor Hochwasser schützen kann. Sein Erfolg ging allerdings erneut zu Lasten der jahrhundertealten Institution des Magistrato alle Acque, der 2014 infolge mehrerer Korruptions- und Veruntreuungsskandale, an denen mächtige Repräsentant*innen des Komitees und auch der regionalen und nationalen Regierung beteiligt waren, aufgelöst wurde. EPILOG Vor dem Bau des Aquädukts reichte das Regenwasser oft nicht aus, um den Trinkwasserbedarf der Stadt zu stillen. Große Tankschiffe, burchi genannt, mussten zum Festland geschickt werden, um Süßwasser zu laden und nach Venedig zu bringen. Nicht die Frischwasserversorgung, sondern die Abwasserentsorgung stellt heute das Problem dar: In regelmäßigen Abständen werden Klärschiffe gerufen, um Tanks, Sickergruben und Abflussrohre zu reinigen. Der Einsatz von Klärgruben – von denen es schätzungsweise lediglich rund 7.000 in der Stadt gibt – hilft Venedig dabei, die Umweltschäden einzudämmen, die durch das Fehlen eines modernen Abwassersystems auftreten. Aber seit MOSE 2021 den Regelbetrieb aufgenommen hat, kann man sich mit ein bisschen Fantasie ein Szenario vorstellen, in dem nach dem globalen Anstieg des Meeresspiegels die Flutbarrieren immer öfter und länger geschlossen werden müssen – bis sie eines Tages endgültig zu bleiben. Dann würde ­Cornaros utopische Vision wahr und Venedig in ein modernes Tenochtitlán verwandelt werden.19 Dieses tragische Szenario würde Venedig jedoch wortwörtlich zu einer Kloake machen. So wie bei der Realisierung des Aquädukts vor 150 Jahren hätte die öffentliche Verwaltung dann keine andere Wahl, als die gigantische Aufgabe anzugehen, Venedig endlich mit einem modernen Abwassersystem auszustatten. Dieses Unterfangen würde die gelben Schleusentore von MOSE – die fortan die Adria permanent vom „heiligen See“ Venedigs abtrennen würden – in den Status eines neuen „ungewollten Denkmals“20 erheben, der Instandhaltung Venedigs und seiner Lagune gewidmet. 1 Vgl. Élisabeth Crouzet-Pavan: „La conquista e l’organizzazione dello spazio urbano“, in: Giorgio Cracco, Gherardo Ortalli (Hg.): Storia di Venezia, Bd. 2: L’età del Comune, Rom 1995, S. 550 2 Vgl. Salvatore Ciriacono: Building on Water – Venice, Holland and the Con­struction of the European Landscape in Early Modern Times, New York 2006, S. 101 3 Vgl. Manfredo Tafuri: Venice and the Renaissance, Cambridge 1995, S. 139–158 4 Vgl. Manfredo Tafuri: „‚Sapienza di stato‘ e ‚atti mancati‘ – architettura e tecnica urbana nella Venezia del’ 500“, in: Lionello Puppi (Hg.): Architettura e Utopia nella Venezia del Cinquecento, Ausst.-Kat. Palazzo Ducale, Venedig, Mailand 1980, S. 32 5 Vgl. ebd., S. 118 6 Vgl. Girolamo Fracastoro: Lettera di Girolamo Fracastoro sulle lagune di Venezia, 
ora per la prima volta pubblicata ed illustrata, Venedig 1815, S. 9 f. 7 Vgl. Alvise Cornaro: „Trattato di acque“ [1566], in: Roberto Cessi (Hg.): Antichi Scrittori d’idraulica Veneta, Bd. 2, Teil 2: Scritture Sopra La Laguna Di Alvise Cornaro e di Cristoforo Sabbadino, Venedig 1941, S. 60–69 8 Vgl. ebd.; siehe auch David Y. Kim: „Uneasy Reflections – Images of Venice and Tenochtitlan in Benedetto Bordone’s ,Isolario‘“, in: RES – Anthropology and ­Aesthetics 49/50 (Frühling/Herbst 2006), S. 80–91, hier S. 88 9 Vgl. André Corboz: „L’immagine di Venezia nella cultura figurativa del’ 500“, 
in: Puppi 1980 (siehe Anm. 4), S. 63 10 Vgl. Salvatore Ciriacono: „Scrittori d’idraulica e politica delle acque“, in: 
Girolamo Arnaldi, Manlio Pastori Stocchi (Hg.): Storia della cultura veneta – Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, S. 192 11 Vgl. Giovanni Caniato: „La conterminazione della laguna di Venezia“, in: 
Emanuele Armani u. a. (Hg.): I cento cippi di conterminazione lagunare, Venedig 1991, S. 11–52 12 Vgl. Ennio Concina: „Venezia, ‚tra due elementi sospesa‘“, in: ‚Tra due 
elementi sospesa‘ – Venezia, Costruzione di un paesaggio urbano, Venedig 2000, S. 46 13 Vgl. Giorgio Gianighian: „Una cisterna interna d’una casa doppia a Venezia (1555)“, in: Silvia Cipriano, Elena Pettenò (Hg.): Archeologia e tecnica dei pozzi per acqua dalla pre-protostoria all’età moderna, Triest 2011, S. 175 14 Insula S.p.A.: Venezia manutenzione urbana – Insula – 10 anni di lavori per la città, Ponzano Veneto 2007 15 Nuove norme relative alle lagune di Venezia e di Marano-Grado [dt. Neue 
Normen in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado], L. n. 366/1963 16 Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 141/1973 17 Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 798/1984 18 Interventi per la salvaguardia di Venezia e della sua laguna [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs und seiner Lagune], L. n. 139/1992 19 Vgl. Lorenzo Fabian, Ludovico Centis: The Lake of Venice – A Scenario for Venice and its Lagoon, Conegliano 2022 20 Zum Begriff des ungewollten Denkmals vgl. Alois Riegl: Der Moderne Denkmalkultus – Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903, S. 6
Aktualisiert: 2023-06-08
> findR *

Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet

Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet
ZWISCHEN DAUERHAFTIGKEIT UND UTOPIE Venedig schöpft sein Wesen aus seiner Beziehung zum Wasser. Doch diese Beziehung ist nicht konfliktfrei. Die Stadt hat es einer jahrhundertealten Geschichte der technischen Entwicklung und Projektierung zu verdanken, dass die fragile, manchmal auch feindselige und ungesunde Umwelt der Lagune von Venedig heute bewohnbar ist.1 Dabei musste ihr Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung immer wieder mit Fragen des Umweltschutzes in Einklang gebracht werden. Die Lagune von Venedig befindet sich in einer fortwährenden Auseinandersetzung mit ihrer unbeständigen geografischen Beschaffenheit, auf Dauer dazu verurteilt, entweder im Meer zu verschwinden oder zu verlanden und eine Erweiterung des Festlands zu werden. Um dieses Schicksal abzuwenden, haben Menschen seit nunmehr 1.500 Jahren Flussläufe verändert, ganze Landstriche trockengelegt, Wasser gepumpt, Schlamm verfestigt, Deiche, Kanäle, Molen, Dämme und Brücken gebaut. Von ihrem Wesen her in stetiger Veränderung begriffen, stellt die Lagune von Venedig eine unerschöpfliche Aufgabe der Instandhaltung dar: von den großen Anstrengungen der Ingenieursbaukunst der Republik bis zu den vielen kleinen Eingriffen der Fischer*innen, Müller*innen und Landwirt*innen, die seit Jahrhunderten die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen.2 Der Mythos der Natürlichkeit der Lagune hat viele gegensätzliche Vorstellungen von der territorialen Entwicklung der Republik Venedig hervorgebracht. Paradigmatisch dafür steht ein intellektueller Disput im 16. Jahrhundert zwischen dem berühmten Chefingenieur der venezianischen Wasserbehörde Magistrato alle Acque, Cristoforo Sabbadino, und dem wohlhabenden Großgrundbesitzer Alvise Cornaro.3 Sabbadino betrachtete Technologie als eine bewahrende Kraft, ein Werkzeug, um das hydrologische Gleichgewicht in der Lagune zu erhalten. Zu diesem Zweck ersann er Wasserbauprojekte spektakulären Ausmaßes auf dem Festland und sprach sich vehement dafür aus, den Lauf ganzer Flüsse zu verändern, um zu verhindern, dass sich Sedimente ansammeln, die zur Verlandung der Lagune führen könnten. Für Sabbadino war die Lagune Venedigs wichtigste Verteidigungsmauer – und je „unfertiger“ sie erschien, desto sicherer war sie in seinen Augen.4 Der Adlige Cornaro hingegen betrachtete Technologie als eine Kraft der Veränderung. Auf dem Anwesen seiner Familie bei Chioggia am südlichen Ende der Lagune experimentierte er mit Techniken der Landgewinnung, wofür er ohne Genehmigung Deiche anlegte, die später auf Anordnung des Magistrato alle Acque zerstört wurden. In seinem sturen Kampf für die Erhaltung dieser Deiche entwickelte Cornaro allmählich eine utopische Vision einer neuen, verwandelten Lagune mit einem schwimmenden Theater und einem künstlich geschaffenen Berg (vago monticello), der auf neu gewonnenem Land in der Mitte des Markusbeckens direkt gegenüber dem Dogenpalast errichtet werden sollte.5 Cornaros visionäre Idee lehnte sich an überlieferte Darstellungen einer anderen Lagunenstadt aus dem 16. Jahrhundert an: Tenochtitlán, die Hauptstadt des Aztekenreichs, deren beeindruckende Gestalt im 1528 vom venezianischen Kartografen Benedetto Bordone veröffentlichten Inselatlas Isolario abgebildet war.6 Tenochtitlán wurde inmitten des alten Texcoco-Sees errichtet, der später von den spanischen Kolonisatoren trocken­gelegt wurde, um Platz für Mexiko-Stadt zu schaffen. Ähnlich wie in Tenochtitlán und im Gegensatz zu Sabbadinos behutsamem Ansatz im Umgang mit der Lagune schlug Cornaro vor, letztere vollständig mit einem Deich zu umfassen, um das Land klar vom Wasser zu scheiden und lediglich eine der Mündungen offenzulassen, die die Lagune mit dem adriatischen Meer verbindet. Die vom umgebenden Wasser fast gänzlich „abgetrennte“ Lagune wäre – ein in sich geschlossenes Ökosystem – in Cornaros Vorstellung nicht nur gesünder, wohlhabender und besser geschützt, sondern auch schöner.7 Die mögliche Auswirkung ­seiner Vision auf die Beziehung zwischen ­Venedig und dem umgebenden Wasser zeigt sich am deutlichsten in Cornaros Verwendung eines neuen Ausdrucks, der durch Bordones Karte beeinflusst sein dürfte: die Lagune als „heiliger See“.8 Den meisten Venezianer*innen wäre jedoch instinktiv bewusst, dass solch eine Vision der engen ontologischen Beziehung zwischen der Stadt und ihrer Lagune zuwiderlaufen würde; nicht zuletzt, weil Venedig bis heute kein modernes Abwassersystem besitzt. Der Abtransport der Abwässer hängt immer noch stark davon ab, ob das Brackwasser in seinem täglichen Anstieg die gatoli (Abwassersystem aus gemauerten Hohlräumen und Rückhalte­becken unterhalb der Gehsteige) erreicht, um so das Abwasser zuerst in die Kanäle und dann weiter hinaus ins offene Meer zu spülen. ZWISCHEN FIXIERUNG UND TRANSFORMATION Sabbadinos und Cornaros gegensätzliche Visionen sind Ausdruck eines epochalen Wandels im kollektiven Verständnis von Venedig. Bis ins 14. Jahrhundert hinein war das städtische Wachstum Venedigs durch Zyklen der Land­gewinnung geprägt, bei denen die Grenzen der Stadt immer noch als dynamisch, provisorisch und instabil angesehen wurden. Erst zwischen 1530 und 1550 wurde dieser Ansatz infrage gestellt, auch durch die breitere Popularisierung von Bordones einflussreicher Darstellung der Stadt inmitten einer idealisierten, perfekt ovalen Lagune.9 Angefacht durch diese ikonografische Wende setzte sich im 16. Jahrhundert die Idee durch, die Beziehung zwischen der bebauten Fläche und dem Wasser dauerhaft zu fixieren. 1557 konzipierte Sabbadino ein umfassendes Programm zur Erweiterung und Festlegung der Grenzen der Stadt, im Rahmen dessen Stadterneuerungsmaßnahmen wie der Bau der nördlichen Uferbefestigung, der Fondamenta Nuove, in Gang gesetzt wurden. Zu dieser Zeit orientierte sich die Republik Venedig immer weniger Richtung Meer. Hintergrund dieser Entwicklung war der fortschreitende Bedeutungsverlust Venedigs als Seemacht durch die Erschließung neuer Handelsrouten am Ende des 15. Jahrhunderts, etwa die „Entdeckung“ Amerikas 1492 oder des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama 1498, und der damit verbundene Aufstieg neuer maritimer Mächte in Europa. Auf der Suche nach einem neuen politischen und ökonomischen Gleichgewicht richtete die Stadt ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf das Festland.10 Nach vielen großen wasserbaulichen Eingriffen, die im 17. Jahrhundert ausgeführt wurden – und von denen Sabbadino viele bereits vorgeschlagen hatte –, wähnte man die Lagune in Sicherheit vor den Sedimenten, die einst direkt von den Flüssen angespült wurden. Fortan begegnete die venezianische Regierung jedem Vorstoß einer räumlichen Erweiterung der Stadt mit einer konservativen Haltung, die darauf abzielte, jedwede mögliche Änderung am bestehenden Wasser- und Abwassersystem einzugrenzen. Die Magistrate der Republik befassten sich nunmehr weitgehend mit „einfachen“ technischen Instandhaltungsmaßnahmen. Diese Entwicklung gipfelte in der Festsetzung der Conterminazione Lagunare im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, welche die territorialen Grenzen der Lagune nach außen klar definierte und mit Grenzsteinen bis heute sichtbar markiert. Der definierte Bereich unterlag fortan der Zuständigkeit und administrativen Verwaltung des Magistrato alle Acque, innerhalb dessen die strengen Bestimmungen und Vorschriften zum Schutz der Lagune galten.11 Die administrative Konstruktion einer dauerhaften Stadtgrenze hatte zur Folge, dass von nun an alle planerischen Eingriffe in Venedig nur noch dem Zweck der Erhaltung, Verbesserung oder Anpassung dienen durften.12 Wir können nur spekulieren, wie sich die Magistrate verhalten hätten, wäre die Republik Venedig nicht 1797 in Napoleons Hände gefallen. Es ist allerdings klar, dass die unzulängliche Instandhaltung und der damit verbundene langsame Verfall der Lagune Ende des 18. Jahrhunderts unter französischer und später österreichischer Herrschaft einsetzten, die schlicht nicht über das Umweltbewusstsein und die technische Kultur verfügten, die venezianische Wasserbauingenieure über Jahrhunderte entwickelt hatten. Der tausend Jahre währende Inselstatus Venedigs wurde von den Österreichern 1846 mit der Einweihung der Eisenbahnbrücke über die Lagune abrupt beendet. Auch nach der Annexion Venedigs durch das Königreich Italien im Jahr 1866 verbesserte sich die Situation nicht wesentlich. So wurden unter italienischer Herrschaft viele Kanäle aufgefüllt und große Teile der Stadt abgerissen. Immer deutlicher wurde auch, dass die dauerhafte Notlage in der Wasserversorgung, welche eine Folge der jahrzehntelangen schlechten Instandhaltung der traditionell genutzten Regenwasserzisternen war, angegangen werden musste. 1884 wurde schließlich ein neues Aquädukt eingeweiht, welches nicht nur den jahrhundertealten Durst Venedigs nach Frischwasser löschte, sondern auch die Karriere des eigenwilligen Chefingenieurs der Stadt, Giuseppe Bianco, beendete. Er hatte zwischen 1857 und 1858 die ehrgeizige Unternehmung betrieben, eine detaillierte Erhebung von tausenden privaten und öffentlichen Regenwasserzisternen vorzunehmen. Es heißt, die Vorstellung des Aquädukts und das zeitgleiche Aufgeben der Zisternen hätten die psychische Erkrankung von Bianco so stark verschlimmert, dass er in die psychiatrische Anstalt auf der Insel San Servolo eingeliefert werden musste.13 Die Anekdote liest sich wie eine Warnung, dass jede große Innovation in Venedig unweigerlich der Eigenart und unvergleichlichen Struktur der Stadt Rechnung tragen muss. Heute übernimmt das städtische Unternehmen Insula S.p.A. – zu deren Gründungspartnern die Gemeinde Venedig und deren Versorgungsunternehmen gehören – die Instandhaltung der Stadt in einem umfassenderen Sinn: vom öffentlichen Wohnungsbau über die städtische Mobilitätsinfrastruktur bis hin zur Wartung der Kanäle.14 ZWISCHEN DESASTER UND GESETZGEBUNG Als die norditalienische Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte, durchlief das venezianische Festland weitere einschneidende Veränderungen, darunter riesige neue Projekte der Landgewinnung, bei denen sich Cristoforo Sabbadino sicher im Grabe umgedreht hätte. 1920 begannen die Arbeiten für die Errichtung eines ersten Industriegebiets, dessen ursprünglicher Kern heute als Porto Marghera bekannt ist und später mit der Erschließung eines zweiten Industriegebiets erweitert wurde. 1924 wurden 2.300 Hektar der Lagune für die landwirtschaftliche Nutzung aufgefüllt und 1933 eine Autobrücke parallel zur Eisenbahnbrücke eröffnet. Zwischen 1961 und 1969 wurde der Malamocco-Marghera-Kanal, auch unter dem Spitznamen Canale dei Petroli (Erdölkanal) bekannt, in der flachen Lagune ausgehoben, damit große Öltanker von der Mündung des Hafens von Malamocco die Raffinerien im Hafen von Marghera erreichen konnten. Mit dem Aushub wurden zwei künstliche Inseln aufgeschüttet, die für ein weiteres Industriegebiet bestimmt waren, welches jedoch infolge der Ölkrise von 1973 nie realisiert wurde. Die boomende Tourismusindustrie spielte eine wichtige Rolle in diesem neuen Prozess der Landgewinnung: Von 1960 an wurde ein großes Gebiet mit Salzmarschen am nördlichen Ende der Lagune aufgefüllt, um Platz für den nach Marco Polo benannten internationalen Flughafen zu schaffen. Auch das historisch empfindliche Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Lagune als Ökosystem und der traditionellen extensiven Aquakultur – die beide auf die natürliche Migration von Fischen durch die Lagune angewiesen sind – ist durch die wachsende Fischzucht aufgrund der hohen touristischen Nachfrage stark beeinträchtigt worden. (Heute schirmen rund 100 Quadratkilometer geschlossener Rückhaltebecken zur Fischzucht mehr als ein Sechstel der Gesamtfläche der Lagune ab.) Eine Umweltkatastrophe markiert Mitte der 1960er-Jahre das jähe Ende dieser Phase der Transformation mit ihren infrastrukturellen Großprojekten: In der großen Flut von Venedig 1966 versank die Stadt knapp 2 Meter unter Wasser und musste sich ihres desolaten Zustands bitter bewusst werden. Dieses tragische Ereignis löste eine heftige politische und soziale Debatte über eine ganze Reihe von Anliegen aus, die nicht nur die Altstadt, sondern den gesamten Ballungsraum betrafen. Dazu gehörten der Bevölkerungsrückgang in der historischen Altstadt, die fehlende Instandhaltung der Murazzi – der alten Befestigungsanlagen zur Seeverteidigung –, die zunehmende Vernachlässigung und Aufgabe kleinerer Inseln und das rücksichtslose Ausheben immer tieferer Kanäle, um die Durchfahrt größerer Schiffe zu ermöglichen. All diese Faktoren führten zu der weit verbreiteten Überzeugung, dass ein spezieller gesetzlicher Schutz der Umwelt und der Sozialstruktur der Stadt notwendig sei. Ironischerweise wurde drei Jahre vor der großen Flut mit den Nuove norme relative alle lagune di Venezia e Marano-Grado [dt. Neue Vorschriften in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado] bereits ein solches Gesetz beschlossen, das jedoch nie umgesetzt wurde.15 Erst 1973 hob das Sondergesetz Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs] die herausragende Bedeutung der Stadt Venedig für das nationale öffentliche Interesse hervor und räumte dem italienischen Staat Sonderrechte ein mit Bezug auf den Schutz des Ökosystems der Lagune sowie der Regulierung der Wasserwege und Gezeiten.16 1984 wurde mit dem Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs] ein weiteres Sondergesetz verabschiedet, das die staatliche Planung, Erprobung und Ausführung groß angelegter Instandsetzungsarbeiten zur Erhaltung der Lagune, zur Abwendung des weiteren Zerfallsprozesses und zum Schutz der Siedlungen vor Hochwasser festschrieb.17 Es wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die eine umstrittene Monopolkonzession an das Consorzio Venezia Nuova, ein Konsortium aus 26 Firmen aus dem Bereich des Wasserbaus und des Bauingenieurswesens, erteilte, die ihm wesentliche Planungs-, Steuerungs- und Entscheidungsbefugnisse überantwortete. Dadurch wurde der Magistrato alle Acque, der über Jahrhunderte eine machtvolle planerische und exekutive Instanz war, zu einem administrativen Dienstleister des Konsortiums degradiert. Ein drittes Sondergesetz von 1992 steckte schließlich den rechtlichen Rahmen für Infrastrukturmaßnahmen zur stärkeren Kontrolle der drei Öffnungen der Lagune ins adriatische Meer bei Lido, Malamocco und Chioggia ab, um massiven Überschwemmungen der Lagunenstadt in Zukunft vorzubeugen.18 In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das Großprojekt MOSE [Module Sperimentale Elettromeccanico, dt. Experimentelles Elektro-mechanisches Modul] vorangetrieben – ein äußerst kontroverses technisches Vorhaben, das die historische Altstadt mithilfe beweglicher Flutbarrieren an den Mündungen vor Hochwasser schützen soll. Das Sperrwerk, das nur im Falle von Sturmfluten mit einer Hochwassermarke von über 1,10 Meter (acqua alta) zum Einsatz kommt, unterbricht jedoch nicht die Gezeitenströmung in der Lagune, um das Funktionieren des empfindlichen Ökosystems sowie auch das spezielle Abwassersystem der Stadt zu erhalten. Obwohl noch nicht vollständig fertiggestellt, ist MOSE bereits einsatzfähig und hat gezeigt, dass es Venedig erfolgreich vor Hochwasser schützen kann. Sein Erfolg ging allerdings erneut zu Lasten der jahrhundertealten Institution des Magistrato alle Acque, der 2014 infolge mehrerer Korruptions- und Veruntreuungsskandale, an denen mächtige Repräsentant*innen des Komitees und auch der regionalen und nationalen Regierung beteiligt waren, aufgelöst wurde. EPILOG Vor dem Bau des Aquädukts reichte das Regenwasser oft nicht aus, um den Trinkwasserbedarf der Stadt zu stillen. Große Tankschiffe, burchi genannt, mussten zum Festland geschickt werden, um Süßwasser zu laden und nach Venedig zu bringen. Nicht die Frischwasserversorgung, sondern die Abwasserentsorgung stellt heute das Problem dar: In regelmäßigen Abständen werden Klärschiffe gerufen, um Tanks, Sickergruben und Abflussrohre zu reinigen. Der Einsatz von Klärgruben – von denen es schätzungsweise lediglich rund 7.000 in der Stadt gibt – hilft Venedig dabei, die Umweltschäden einzudämmen, die durch das Fehlen eines modernen Abwassersystems auftreten. Aber seit MOSE 2021 den Regelbetrieb aufgenommen hat, kann man sich mit ein bisschen Fantasie ein Szenario vorstellen, in dem nach dem globalen Anstieg des Meeresspiegels die Flutbarrieren immer öfter und länger geschlossen werden müssen – bis sie eines Tages endgültig zu bleiben. Dann würde ­Cornaros utopische Vision wahr und Venedig in ein modernes Tenochtitlán verwandelt werden.19 Dieses tragische Szenario würde Venedig jedoch wortwörtlich zu einer Kloake machen. So wie bei der Realisierung des Aquädukts vor 150 Jahren hätte die öffentliche Verwaltung dann keine andere Wahl, als die gigantische Aufgabe anzugehen, Venedig endlich mit einem modernen Abwassersystem auszustatten. Dieses Unterfangen würde die gelben Schleusentore von MOSE – die fortan die Adria permanent vom „heiligen See“ Venedigs abtrennen würden – in den Status eines neuen „ungewollten Denkmals“20 erheben, der Instandhaltung Venedigs und seiner Lagune gewidmet. 1 Vgl. Élisabeth Crouzet-Pavan: „La conquista e l’organizzazione dello spazio urbano“, in: Giorgio Cracco, Gherardo Ortalli (Hg.): Storia di Venezia, Bd. 2: L’età del Comune, Rom 1995, S. 550 2 Vgl. Salvatore Ciriacono: Building on Water – Venice, Holland and the Con­struction of the European Landscape in Early Modern Times, New York 2006, S. 101 3 Vgl. Manfredo Tafuri: Venice and the Renaissance, Cambridge 1995, S. 139–158 4 Vgl. Manfredo Tafuri: „‚Sapienza di stato‘ e ‚atti mancati‘ – architettura e tecnica urbana nella Venezia del’ 500“, in: Lionello Puppi (Hg.): Architettura e Utopia nella Venezia del Cinquecento, Ausst.-Kat. Palazzo Ducale, Venedig, Mailand 1980, S. 32 5 Vgl. ebd., S. 118 6 Vgl. Girolamo Fracastoro: Lettera di Girolamo Fracastoro sulle lagune di Venezia, 
ora per la prima volta pubblicata ed illustrata, Venedig 1815, S. 9 f. 7 Vgl. Alvise Cornaro: „Trattato di acque“ [1566], in: Roberto Cessi (Hg.): Antichi Scrittori d’idraulica Veneta, Bd. 2, Teil 2: Scritture Sopra La Laguna Di Alvise Cornaro e di Cristoforo Sabbadino, Venedig 1941, S. 60–69 8 Vgl. ebd.; siehe auch David Y. Kim: „Uneasy Reflections – Images of Venice and Tenochtitlan in Benedetto Bordone’s ,Isolario‘“, in: RES – Anthropology and ­Aesthetics 49/50 (Frühling/Herbst 2006), S. 80–91, hier S. 88 9 Vgl. André Corboz: „L’immagine di Venezia nella cultura figurativa del’ 500“, 
in: Puppi 1980 (siehe Anm. 4), S. 63 10 Vgl. Salvatore Ciriacono: „Scrittori d’idraulica e politica delle acque“, in: 
Girolamo Arnaldi, Manlio Pastori Stocchi (Hg.): Storia della cultura veneta – Dal primo Quattrocento al Concilio di Trento, Vicenza 1980, S. 192 11 Vgl. Giovanni Caniato: „La conterminazione della laguna di Venezia“, in: 
Emanuele Armani u. a. (Hg.): I cento cippi di conterminazione lagunare, Venedig 1991, S. 11–52 12 Vgl. Ennio Concina: „Venezia, ‚tra due elementi sospesa‘“, in: ‚Tra due 
elementi sospesa‘ – Venezia, Costruzione di un paesaggio urbano, Venedig 2000, S. 46 13 Vgl. Giorgio Gianighian: „Una cisterna interna d’una casa doppia a Venezia (1555)“, in: Silvia Cipriano, Elena Pettenò (Hg.): Archeologia e tecnica dei pozzi per acqua dalla pre-protostoria all’età moderna, Triest 2011, S. 175 14 Insula S.p.A.: Venezia manutenzione urbana – Insula – 10 anni di lavori per la città, Ponzano Veneto 2007 15 Nuove norme relative alle lagune di Venezia e di Marano-Grado [dt. Neue 
Normen in Bezug auf die Lagunen von Venedig und Marano-Grado], L. n. 366/1963 16 Interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 141/1973 17 Nuovi interventi per la salvaguardia di Venezia [dt. Neue Eingriffe zum Schutze Venedigs], L. n. 798/1984 18 Interventi per la salvaguardia di Venezia e della sua laguna [dt. Eingriffe zum Schutze Venedigs und seiner Lagune], L. n. 139/1992 19 Vgl. Lorenzo Fabian, Ludovico Centis: The Lake of Venice – A Scenario for Venice and its Lagoon, Conegliano 2022 20 Zum Begriff des ungewollten Denkmals vgl. Alois Riegl: Der Moderne Denkmalkultus – Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903, S. 6
Aktualisiert: 2023-05-31
> findR *

Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet

Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet
OPEN FOR MAINTENANCE –WEGEN UMBAUGEÖFFNET Open for Maintenance ist keine Ausstellung. Es ist ein Handlungsansatz für eine Baukultur jenseits der vorherrschenden Ausbeutung von Ressourcen und Menschen. Im Fokus stehen gebrauchte Materialien von über 40 verschiedenen ­Länderpavillons der Kunstbiennale 2022 sowie ein breites Netzwerk venezianischer und deutscher Initiativen. Durch den behutsamen Umgang mit dem, was bereits materiell, sozial und urban vorhanden ist, macht der Deutsche Pavillon Prozesse der räumlichen und sozialen Sorgearbeit sichtbar, die normalerweise dem Blick der Öffentlichkeit entzogen sind. Open for Maintenance ist eine Instandbesetzung des Deutschen Pavillons „as found“, das heißt samt der Arbeit Relocating a Structure der Künstlerin Maria Eichhorn für die Kunstbiennale 2022. Kunst- und Architekturbiennale werden auf diese Weise erstmals räumlich und programmatisch miteinander verwoben. Die neuen baulichen Eingriffe orientieren sich an lokalen Bedarfen und umfassen eine inklusive Rampe, einen ökologischen und diskriminierungsfreien Sanitärraum, einen Versammlungsraum, eine Tee­küche, ein ­Materialdepot und eine Werkstatt. Die Interventionen bestehen aus dem gesammelten Material der Kunstbiennale 2022 und greifen neben der Ressourcenfrage auch Themen der gesellschaftlichen und räumlichen Inklusion auf. Open for Maintenance verwandelt den repräsentativen Deutschen Pavillon in einen gelebten Ort der (Re-)Produktion. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Gruppen werden von hier aus Studierende und Auszubildende des Handwerks im Rahmen des sechsmonatigen Werkstatt-Programms ­Maintenance 1:1 soziale Infrastrukturen in Venedig pflegen, reparieren und instand(be)setzen. Das Entwerfen mit dem Unplanbaren in materieller und partizipativer Hinsicht eröffnet optimistische Gestaltungsmöglichkeiten für die ­Architektur und trägt zugleich zu ihrer Erneuerung als ­soziale Praxis bei. DIE RAMPE
In Kooperation mit FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER + Goethe-Institut / Performing Architecture, Rebiennale / R3B 1938 baute der Architekt Ernst Haiger den 1909 errichteten Bayerischen Pavillon entsprechend der NS-Ideologie zu einer Monumentalarchitektur um. Seitdem prägen vier mächtige, kannelierte Pfeiler in der dorischen Ordnung den Portikus, den man über fünf Stufen betritt. Der Bau ist Träger einer Architekturideologie, die von Überlegenheit, Herrschafts- und Machtanspruch kündet. Alle, die nicht der Norm entsprechen, sind ausgeschlossen. Dies ist nicht nur politisch und kulturell gemeint, sondern auch ganz physisch: Der hier angewendete Klassizismus hat sich immer schon den gesunden – im National­sozialismus am rassistischen Idealbild orientierten – Körper zum Maßstab genommen. Andere Formen der Körperlichkeit wurden negiert. Open for Maintenance versteht die Reparatur bestehender Bausubstanz auch als Möglichkeit einer baulichen und ideologischen Korrektur, die die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen sowie ableistisch diskriminierter Körper ins Zentrum rückt. Die temporäre Umgestaltung der Eingangssituation des Deutschen Pavillons mit einer halbkreisförmigen Erschließungsrampe erleichtert sowohl Besucher*innen mit Mobilitätseinschränkungen als auch Reinigungskräften, Aufsichten und Handwerker*innen mit schwerem Gerät den Zugang. Die inklusive Rampe umschließt ein neues öffentliches Podium, das zur Eröffnung von der mixed-able FORWARD DANCE COMPANY von LOFFT – DAS THEATER in Kooperation mit dem Programm-Partner Goethe-Institut aktiviert wird. DAS MATERIAL­DEPOT
In Kooperation mit Rebiennale / R3B, Concular Nach jeder Biennale werden, verborgen vor den Augen der Besucher*innen, tonnenweise Ausstellungsmaterialien mühsam von Hand, per Sackkarre und Boot durch Venedig bewegt. Nur ein Bruchteil davon wird weitergenutzt. Nicht zuletzt wegen nicht vorhandener Lagerflächen und hoher Logistikkosten – ein bekanntes Problem des zirkulären Bauens – landet das meiste Abbruchmaterial auf Müllhalden oder dem Wertstoffhof. Hier setzt der Beitrag Open for Maintenance an: Die Übernahme von Maria Eichhorns Arbeit Relocating a Structure für die Kunstbiennale 2022 direkt nach der Finissage ermöglichte den sofortigen Zugang und die Nutzung des ­Deutschen Pavillons als Materialdepot. Mit großem körperlichen Einsatz konnte in Kooperation mit Rebiennale / R3B Material aus über 40 verschiedenen Länderpavillons und Ausstellungen gerettet werden. Diese ­„Spolien“ der vorangegangenen Biennale werden Teil der baulichen Eingriffe im ­Deutschen Pavillon, die vollständig aus den gesammelten Resten umgesetzt sind. Mithilfe einer neu­geschaffenen digitalen Datenbank, die in Kooperation mit Concular entsteht, werden die inventarisierten Materialien während der Laufzeit der Architekturbiennale im Rahmen des Werk­statt-Programms ­Maintenance 1:1 für die Weiterverarbeitung verfügbar gemacht. DIE WERKSTATT In Kooperation mit Sto-Stiftung, AIT-Dialog, Rebiennale / R3B, Hochschulen, Ausbildungsbetrieben Die profitgetriebene Architekturproduktion ist auf Neubau statt Reparatur, auf Wachstum statt auf Erhalt ausgerichtet. Sie steht in krassem Widerspruch zu dem, was angesichts aktueller Krisen ökologisch und gesellschaftlich geboten ist. Reparatur – des Systems und der Bausub­stanz – wird somit zur unumgänglichen politischen und entwerferischen Praxis. Bereits heute sind mehr als 50 Prozent der euro­päischen Architekturprojekte Umbau- und Sanierungsmaßnahmen. In Zukunft wird das Machen von Architektur vor allem Reparieren bedeuten. Doch Reparatur bedarf des Wissens, der Werkzeuge und Fähigkeiten, die in einer voll ausgestatteten, allen Besucher*innen offenstehenden Werkstatt im Deutschen Pavillon bereitgestellt werden. Im Mittelpunkt steht die Ermächtigung der Menschen, damit sie ihre (gebaute) Umwelt instand halten können. Ein Werkstatt-Programm mit internationalen Initiativen, Universitäten und Ausbildungsstätten schafft den Sprung in die Praxis und über die Grenzen der Biennale hinaus: In kollaborativen Projekten werden kleinere Reparaturarbeiten in und um Venedig durchgeführt. Anhand konkreter Eingriffe lernen die Beteiligten, dass in der Reproduktion des Raums die soziale Frage untrennbar mit der ökologischen verknüpft ist. DER WASCHRAUM In Kooperation mit Arbeitsgruppe Sanitärwende ­(Eawag, finizio – Future Sanitation, KanTe – Kollektiv für angepasste Technik, klo:lektiv, IGZ – Leibniz-­Institut für Gemüse- und Zier­pflanzen­bau, urin*all u. a.), Agriluska, IDRO Group Um den Deutschen Pavillon in einen gelebten Ort der (Re-)Produktion verwandeln und vor Ort arbeiten zu können, wird die bisher fehlende Sanitärinfrastruktur in den Pavillon integriert. Über diesen pragmatischen Ansatz hinaus setzt der neue Waschraum zentrale Themen einer „sanitären Wende“ um: Auf ökologischer Ebene ist ein wasserbasiertes Sanitärnetz angesichts der zunehmenden Dürre­perioden nicht länger tragbar. Besonders in Venedig, wo keine Kanalisation existiert und Fäkalien in den meisten Fällen ungeklärt in die Lagune gespült werden (lediglich ein kleiner Anteil der Gebäude verfügen über Klärgruben), bedarf es alternativer Lösungen, die den Wasserverbrauch drastisch reduzieren und den Stoffkreislauf schließen. Open for Maintenance setzt einen barrierefreien Prototyp für wasserlose Toiletten sowie ein Unisex-Urinal in Verbindung mit einem Urin-Reaktor ein. In Zusammenarbeit mit dem biologischen Landwirtschaftsbetrieb Agriluska im Veneto werden die Abfälle kompostiert und anschließend als Dünger verwendet (die Flüssigstoffe werden direkt im Reaktor zu Dünger verarbeitet). Auf gesellschaftspolitischer Ebene geht es im Zusammenhang mit einer solchen elementaren Bedürfnisbefriedigung wie dem Toilettengang, der Körperpflege sowie den zugehörigen Infrastrukturen der Instandhaltung und Reinigung jedoch auch um Fragen der Gerechtigkeit hinsichtlich Gender, Be_hinderung, Race und Klasse. Durch eingebaute Vorrichtungen zum Wickeln, Waschen und Reinigen wird Sorgearbeit näher thematisiert. DIE TEEKÜCHE In Kooperation mit Assemblea Sociale per La Casa, Centro Sociale Rivolta, ConstructLab, Haus der Materialisierung, Institute of Radical Imagination + S.a.L.E. Docks, Kotti & Co, Laboratorio Occupato Morion, Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco Maintenance ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen spielen bei Erhalt und Pflege baulicher und sozialer Infrastrukturen eine wesentliche Rolle. Um sich auszutauschen, gegenseitig zu unterstützen und zu organisieren, ist ein niedrigschwelliges Angebot an Orten der Kommunikation und der kollektiven Fürsorge von entscheidender Bedeutung. Die Teeküche von Open for Maintenance übernimmt die Rolle einer solchen kommunikativen Schaltzentrale. Hier wird das breite zivilgesellschaftliche Netzwerk des Projekts mit all seinen ökologischen, stadtpolitischen und sozialen Forderungen gespiegelt. Anhand von Plakaten, Flugblättern und weiteren gesammelten Kommunikationsmitteln von Initiativen aus Venedig und Deutschland wie Assemblea Sociale per la Casa, Centro Sociale Rivolta, Laboratorio Occupato Morion oder Institute of Radical ­Imagination sowie Bellevue di Monaco, Haus der Materialisierung und Kotti & Co werden die sozialen Kämpfe um das Recht auf Stadt und das Recht auf Wohnen im Original wiedergegeben und gebündelt. DER VERSAMMLUNGS­RAUM In Kooperation mit Haus der Materialisierung, Crclr Haus (Concular, Die Zusammenarbeiter, Impact Hub Berlin, LXSY Architekten, TRNSFRM) Open for Maintenance vermittelt keine überraschende Erkenntnis: Es ist weithin bekannt, dass der Bausektor mehr als 40 Prozent zur globalen CO2-Emission beiträgt; dass Wohnraum in urbanen Ballungsräumen zunehmend unbezahlbar wird, auch aufgrund der Touristifizierung, die im Falle Venedigs gerade durch die Biennale weiter verschärft wird; dass die sozialen und ökologischen Folgen dieser Entwicklungen jene ohnehin vulnerablen und marginalisierten Gruppen zu spüren bekommen, die auf der ganzen Welt (räumliche) Sorge­arbeit leisten, den Bestand pflegen und instand halten. Es ist entscheidend, wie wir mit diesem Wissen umgehen. Die aktuellen Krisen der Architektur sind nur durch neue Formen des Zusammen­arbeitens von Architekt*innen, Handwerker*innen, Ingenieur*innen, Künstler*innen, Forscher*innen und der Zivilgesellschaft lösbar. Der Versammlungsraum im Deutschen Pavillon schafft ein Angebot für diesen Austausch. Hier können aber auch Besucher*innen das Gesehene und Erfahrene spielerisch reflektieren: indem sie aus Restmaterialien der Kunstbiennale nach Schnittmustern von Haus der Materialisierung eine Tragehilfe produzieren oder anhand des von LXSY ­Architekten gemeinsam mit Impact Hub ­Berlin und ­Concular entwickelten Brettspiels Trivial Circuit die komplexe Neuordnung des Planungsprozesses beim zirkulären Bauen nachvollziehen, die die herkömmlichen Leistungsphasen hinterfragt und ökologische und soziale Aspekte in den Mittelpunkt stellt. Der Deutsche Pavillon macht mit dem Medium der Architektur die Maintenance-Arbeit an der Disziplin sowie am baulichen und sozialen Bestand erfahrbar. Die positive Bezugnahme auf den Begriff der ­Maintenance im Titel stellt sich in die Tradition einer feministischen Kunstpraxis, die den Stellenwert der alltäglich ausgeübten reproduktiven Sorge­arbeiten für den Erhalt von Gesellschaften betont. Das kuratorische Konzept übersetzt den Begriff der Maintenance im Sinne architektonischer Praxen des Pflegens, ­Reparierens und Instand(be)-setzens, die stets von den bestehenden materiellen und sozialen Netzwerken ausgehen und in ihrer Wartung, Ertüch­tigung und Transformation auf eine Wiederaneignung beziehungsweise Verstetigung ­dieser Strukturen zielen. Der Beitrag bezieht sich bewusst auf Venedig als Austragungsort der Biennale, um an diesem Fallbeispiel die Notwendigkeit eines „doppelten Bewusstseins“ in der Architektur, wie Lesley Lokko es in ihrem Konzept The ­Laboratory of the Future für die 18. Architekturbiennale gefordert hat, zu demonstrieren: Die Architektur muss stets die konkreten Problemlagen vor Ort und deren globale Zusammenhänge im Blick haben. Ein konkretes Beispiel: Die Bevölkerungszahl Venedigs nimmt stetig ab. Viele Menschen können sich das Leben in der Lagunenstadt nicht mehr leisten. Das Problem der Verdrängung hängt mit der Kommerzialisierung des städtischen Raums durch Massentourismus, Biennalen und Event-Industrie zusammen. Zunehmend verschwinden mit dem Alltagsleben auch gemeinwohlorientierte Netzwerke der sozialen und materiellen Maintenance aus der Stadt. Gleichzeitig bilden sich aufgrund dieser Missstände eine Vielzahl an Initiativen, die sich der Probleme tatkräftig annehmen, etwa die Assemblea Sociale per la Casa (ASC), die die Praxis der Instandbesetzung aktualisiert. Denn trotz der Verdrängungseffekte stehen in Venedig über 2.200 Wohnungen der öffentlichen Hand leer und verfallen. Die ASC besetzt solche Wohnungen und setzt sie mit gebrauchtem Material der Biennalen instand, um sie anschließend an bedürftige Familien und Wohnungssuchende zu vergeben. Sie erhält damit die urbane Struktur und stabilisiert das soziale Gefüge. Damit steht sie in der Tradition der historischen Instandbesetzungen, wie wir sie etwa aus den 1980er-Jahren aus Berlin kennen. Diese Praxis, die sich im Rahmen der IBA Alt im Programm der behutsamen Stadterneuerung offiziell verstetigte, hat wesentlich zum Erhalt der historischen Bausubstanz und der gewachsenen Gemeinschaften beigetragen. Ansässigen Initiativen wie der ASC dient der Deutsche Pavillon als eine solidarische Plattform. Die gemeinschaftlichen Interventionen im Pavillon und im städtischen Raum sind dabei nicht lediglich als Kritik an den Biennalen als Format und der Architektur als Disziplin gemeint. Vielmehr legt der praxisbezogene Ansatz die Vielzahl an möglichen Handlungsoptionen zu Umbau und Gestaltung einer inklusiven und sozialökologisch nachhaltigen Stadt und Architektur offen und betont dabei die Chancen und Potentiale der anstehenden Aufgaben. Die Freude, sich mit Gleichgesinnten an diesen abzuarbeiten, steht im Zentrum des deutschen Beitrags für die Architekturbiennale 2023. DANKSAGUNG Der deutsche Beitrag für die 18. Architekturbiennale hat sich zu einem internationalen Projekt mit über 100 Beteiligten entwickelt. Ohne ihr Vertrauen und ihren Einsatz wäre Open for Maintenance nicht möglich gewesen. Dafür möchten wir uns bei allen bedanken, die sich engagiert und das Projekt unterstützt haben. Es sind zu viele, um einzelne hier hervorzuheben, die ausführlichen Nennungen und Danksagungen finden sich am Ende des Heftes. Doch ohne die fantastischen ­ Teams von ARCH+, ­SUMMACUMFEMMER und BÜRO ­JULIANE GREB hätten wir das Projekt nicht umsetzen können: Elke ­Doppelbauer, Nora ­Dünser, ­Mirko Gatti, Anna Hugot, Sascha Kellermann, Beatrice Koch, ­Daniel ­Kuhnert, Arno ­Löbbecke, Victor Lortie, Vittorio ­Romieri, Barbara Schindler und Finn Steffens. Ihnen gebührt unser besonderer Dank. Text: Anne Femmer, Franziska Gödicke, Juliane Greb, Christian Hiller, Petter Krag, ­Melissa Makele, Anh-Linh Ngo, Florian Summa
Aktualisiert: 2023-05-30
> findR *
MEHR ANZEIGEN

Bücher zum Thema Instandbesetzen

Sie suchen ein Buch über Instandbesetzen? Bei Buch findr finden Sie eine große Auswahl Bücher zum Thema Instandbesetzen. Entdecken Sie neue Bücher oder Klassiker für Sie selbst oder zum Verschenken. Buch findr hat zahlreiche Bücher zum Thema Instandbesetzen im Sortiment. Nehmen Sie sich Zeit zum Stöbern und finden Sie das passende Buch für Ihr Lesevergnügen. Stöbern Sie durch unser Angebot und finden Sie aus unserer großen Auswahl das Buch, das Ihnen zusagt. Bei Buch findr finden Sie Romane, Ratgeber, wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher uvm. Bestellen Sie Ihr Buch zum Thema Instandbesetzen einfach online und lassen Sie es sich bequem nach Hause schicken. Wir wünschen Ihnen schöne und entspannte Lesemomente mit Ihrem Buch.

Instandbesetzen - Große Auswahl Bücher bei Buch findr

Bei uns finden Sie Bücher beliebter Autoren, Neuerscheinungen, Bestseller genauso wie alte Schätze. Bücher zum Thema Instandbesetzen, die Ihre Fantasie anregen und Bücher, die Sie weiterbilden und Ihnen wissenschaftliche Fakten vermitteln. Ganz nach Ihrem Geschmack ist das passende Buch für Sie dabei. Finden Sie eine große Auswahl Bücher verschiedenster Genres, Verlage, Autoren bei Buchfindr:

Sie haben viele Möglichkeiten bei Buch findr die passenden Bücher für Ihr Lesevergnügen zu entdecken. Nutzen Sie unsere Suchfunktionen, um zu stöbern und für Sie interessante Bücher in den unterschiedlichen Genres und Kategorien zu finden. Unter Instandbesetzen und weitere Themen und Kategorien finden Sie schnell und einfach eine Auflistung thematisch passender Bücher. Probieren Sie es aus, legen Sie jetzt los! Ihrem Lesevergnügen steht nichts im Wege. Nutzen Sie die Vorteile Ihre Bücher online zu kaufen und bekommen Sie die bestellten Bücher schnell und bequem zugestellt. Nehmen Sie sich die Zeit, online die Bücher Ihrer Wahl anzulesen, Buchempfehlungen und Rezensionen zu studieren, Informationen zu Autoren zu lesen. Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen das Team von Buchfindr.