Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit in der Krise

Wahrnehmung und Darstellung von Wirklichkeit in der Krise von Schuon,  Cornelia
In der kunsthistorischen Forschung bezeichnet der umstrittene Begriff ,Realismus‘ im Allgemeinen das Verhältnis eines Kunstwerks zur Wirklichkeit. Der Begriff Realismus gehört allerdings zu den besonders schwer zu fassenden Diskursfeldern, die auch in jüngeren Forschungsansätzen immer neu problematisiert werden. Bis heute hat sich keine klare Abgrenzung zwischen der Verwendung als systematische Bezeichnung eines zeitübergreifenden Phänomens „(…) einer spezifischen Art der Wirklichkeitsaneignung (…)“, die prinzipiell in allen Epochen möglich sein soll und der Verwendung als historischem Begriff für Richtungen und Schulen des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich „realistisch“ nannten, durchgesetzt. Den Problempunkt einer semiotisch eindeutigen Begriffsbestimmung von Realismus in der Kunstgeschichte hat Klaus Herding in seinem Aufsatz „Mimesis und Innovation. Überlegungen zum Realismus in der bildenden Kunst“ schrittweise analysiert und aufgefächert. Herding kritisiert, dass beide Bedeutungen von Realismus als Epochen- und/oder Stilbegriff in der Kunstgeschichte miteinander vermengt werden und dass sie andererseits dort, wo sie getrennt auftreten, auf unterschiedliche Phänomene angewendet werden. Das Phänomen des Realismus soll im Folgenden hinsichtlich der Facetten seiner Verwendung als sowohl Stil- wie auch Epochenbegriff des 19. Jahrhunderts untersucht werden. Das weitgefasste Bedeutungsfeld birgt das angesprochene Problem in sich, dass der Begriff auf unterschiedliche Phänomene der Kunst angewendet wird. Eines der Ziele besteht darin, die verschiedenen Bedeutungsebenen von ,Realismus‘ aufzuschlüsseln und voneinander abzugrenzen, wobei exemplarisch anhand von Fallbeispielen aus den Werken von Édouard Manet und Edgar Degas vorgegangen wird. Im Zentrum stehen zwei Beispiele realistischer Kunstauffassung am Beginn der historischen Moderne respektive der Frühmoderne: das Gemälde der Olympia von Édouard Manet aus dem Jahr 1863 und Edgar Degas’ Wachsplastik Kleine Tänzerin von 14 Jahren, die 1881 entstand. Beide Werke sind vor dem Hintergrund des veränderten Gegenwartsbewusstseins und des neuen Menschenbildes im Zeitalter der Photographie zu sehen und als kunsthistorische Standortbestimmungen zur neuen beziehungsweise veränderten Realitäts- und Weltsicht zu werten, die in der Interpretation einander gegenübergestellt werden. Meine Untersuchung beruht auf der These, dass die fortschrittliche, auf die Darstellung gegenwärtiger Wirklichkeit ausgerichtete Kunst des 19. Jahrhunderts, die sich als erste antiakademische Künstlergruppierung in Frankreich präsentierte, nicht zuletzt auf einer Krise der Repräsentation beruht. Die grundsätzliche Erreichbarkeit eines Modus von neutraler Objektivität in der Wirklichkeitsdarstellung wurde aufgrund von Fortschritten in Medizin und Technik in Frage gestellt, was es im Weiteren darzustellen gilt. Seit der Erfindung der Photographie (1839) wurde dem photographischen Bild ein großer Wirklichkeitsgehalt zugeschrieben, da man in ihm ein Abbild der Realität zu erkennen glaubte. In ihren Anfängen wurde sie als Konkurrenzmedium zur Malerei verstanden, da der Malerei bis zur Erfindung der Photographie die Aufgabe zukam, mimetische Abbilder der Realität zu erstellen. Während die Photographie als Dokumentationsmedium zunehmend Aufgaben der Repräsentation übernahm, erweiterte die Malerei ihre Möglichkeiten und Zielvorgaben und thematisierte das Verhältnis von Sehen und Wahrnehmen der Welt als solches. Dennoch wurden die Vorteile des Konkurrenzmediums als präzises Dokumentationsmittel von Seiten der Künstler geschätzt und die Photographie als Hilfsmittel eingesetzt. Vor diesem Hintergrund wurden in Untersuchungen zur Kunst des 19. Jahrhunderts die Wechselwirkungen zwischen der Photographie und den bildenden Künsten diskutiert. Neuere Forschungen zur Geschichte der Photographie weisen darauf hin, dass die Abkehr von der mimetischen Abbildung und die Hinwendung zu den nur der Malerei eigenen Mitteln nicht im kausalen Zusammenhang mit der Erfindung der Photographie steht. In diesem Sinn argumentiert etwa Jonathan Crary in seinen Studien zu den „Techniken des Betrachters“ und zur „Aufmerksamkeit“. Die Entwicklung der Photographie und die Etappen der ästhetischen Moderne seien vielmehr Symptome einer Veränderung des Sehens respektive der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Der Mensch sah sich im Zeitalter der Industrialisierung einer komplexen, schwer fasslichen Welt gegenüber: Technische Errungenschaften und wissenschaftliche Erkenntnisse veränderten das Weltbild und die Wahr nehmung dieser Welt nachhaltig. Die Entstehung der neuen Seh- und Erfahrungskultur des 19. Jahrhunderts basiert auf einer Reihe von Entwicklungen, die auf den historischen Prozess der Modernisierung zurückzuführen sind, auf jenen Prozess, der den gewaltigen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Wandel nach der Französischen Revolution bezeichnet, die zur demokratischen und industriellen Revolution führte. Thomas Nipperdey zählt in seinem Beitrag „Wie das Bürgertum die Moderne fand“ auf, worin die Jahrzehnte um 1800 die Welt, Europa revolutioniert haben: „politisch durch die literarisch-demokratischen Revolutionen von 1776 und 1789 (…) und ihre Auswirkungen, wirtschaftlich durch die industrielle Revolution durch Maschine und Markt“. Die bürgerliche Gesellschaft und der bürgerlich-bürokratische Staat traten an die Stelle feudaler Gesellschaft. Den Prozess, der den Austritt der Künste aus ihrer Einbindung aus Hof und Kirche, der ständischen Welt, des Adels und der Patrizier beschreibt, bezeichnet er als „Phänomen der Verbürgerlichung der Künste“, welches er ausführlich darstellt. Wolfgang Kemp interpretiert die Entwicklungen der Kunst des 19. Jahrhunderts sowie die damalige „Krise der Malerei“ aus der formalästhetischen und zugleich soziohistorischen Perspektive, wobei er die Veränderungen von Kunst einerseits auf der Ebene ihrer Produktions-, Präsentations-, und Rezeptionsbedingungen untersucht, anderseits diese Zusammenhänge auf einer übergeordneten Ebene in ihrem umfassenden kulturhistorischen Kontext erklärt. An den Werken der Kunst der 1860er Jahre wird seiner Argumentation zufolge sichtbar, „wie sie das bedingte Wahrnehmungsverhalten und die Bedingungen der Rezeption reflektieren“. Die unterschiedlichen Schulen oder Richtungen des Realismus und auch des Impressionismus, die den Alltag als Sujet der Kunst etablierten, verfolgten unterschiedliche Ziele und versuchten dabei in ihrem jeweils spezifischen künstlerischen Stil und mit unterschiedlichen Methoden, eine Vielzahl von Aspekten der Wahrnehmung von Wirklichkeit zu thematisieren. Der „Maler des Modernen Lebens“ solle nach Charles Baudelaire das, was die Modernität im eigentlichen Sinn kennzeichne, darstellen.Da jede Zeit über eine nur ihr eigene Haltung, einen Blick und Gestik verfüge, sollte der Künstler sich folglich an der aktuellen Mode und dem aktuellen Geschmack orientieren, um ,Originalität‘ zu erreichen. In diesem Sinn ist auch die Orientierung der fortschrittlichen Künstler des 19. Jahrhunderts an den Errungenschaften des modernen Darstellungsmediums der Photographie zu analysieren. Verschiedene Richtungen der realistischen Kunst imitieren den photographischen Blick, als Inbegriff des modernen Sehens, um ihren Kunstwerken damit die Aura von Authentizität zu verleihen. Ziel dieser Arbeit wird es sein, jene Frage einer Antwort näher zu bringen, wie und mit welcher Absicht Künstler des Realismus die optischen Prinzipien photographischer Bilder darüber hinaus in ihren Werken zum Einsatz brachten.
Aktualisiert: 2022-12-31
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