Spuren am Körnerplatz

Spuren am Körnerplatz von Jannasch,  Achim
Warum denn gerade der Körnerplatz? Ich fühle mich wohl, wenn ich den Elbhang am Körnerplatz in Dresden besuche. Oft frage ich mich, warum das so ist und warum es mich immer wieder hierher treibt. Sicherlich liegt es daran, dass mich viele Kindheitserinnerungen mit dem Ort verbinden. Schließlich habe ich die ersten Jahre meines Lebens hier verbracht. Ich mag etwa drei Jahre alt gewesen sein, als sich die ersten bewussten Eindrücke einprägten. Sie rühren von den Schritten her, die ich über den Körnerplatz und die Loschwitzer Brücke, die auch gern Blaues Wunder genannt wird, ging. Und sicher hat mich die Schönheit und die Größe der gewaltigen Stahlkonstruktion über die Elbe zutiefst beeindruckt, denn das ist auch heute noch so. Außerdem erscheint in Kinderaugen ja alles bedeutend imposanter, als es die spätere Beurteilung des Erwachsenen nachvollziehen kann; aber ich spüre, dass dies nicht allein der Grund meiner Faszination ist. Sind es die bodenständigen Menschen hier, die ihre Herzlichkeit mit dem ihnen eigenen, derben sächsischen Dialekt auszudrücken wissen? Ist es das besondere Klima des Elbtals, das in diesen nördlichen Breiten Wein gedeihen lässt, und auch die „Kamelie“ im Pillnitzer Schlosspark? Oder ist es das spirituelle Erbe, das die großen deutschen Dichter und Gelehrten in ihrer Sommerfrische am Elbufer zurückließen? Vielleicht erschließt es sich mir, wenn ich mit diesem Buch und den dafür erforderlichen Recherchen tiefer in dieses Phänomen eintauche. Ich bin ein 61er Jahrgang und als Waage-Mensch im September geboren. Meine ersten Lebensjahre kann ich durchaus als behütete Kindheit bezeichnen. Bis zum Schulalter wuchs ich in der Fischhausstraße am Rande der Dresdner Heide auf. Direkt am Gasthof und Hotel „Fischhaus“ stehen einige Häuser entlang der Straße nach Radeberg, die seinerseits meistenteils von Angestellten der Forstwirtschaft bewohnt wurden. Mein Vater war im damaligen Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb beschäftigt. Nachdem ich geboren war, machte sich die junge Familie mit dem kargen, aber geregelten Einkommen eines Staatsdieners unabhängig und bezog die kleine Wohnung an der Heide. Die Eltern mussten sich mit einer gewissen Abgeschiedenheit anfreunden. Besonders für die Mutter war es oft nicht einfach, den Weg zu einer „Infrastruktur“ zu finden. Der nächste Laden mit einem schmalen Angebot für den täglichen Bedarf war in der Wilhelminenstraße nach einem Kilometer Fußmarsch. Das erforderte stets einen akribisch zu führenden Einkaufszettel. Für mich jedoch war die Umgebung ein schier unerschöpflicher Abenteuerspielplatz. Bäche und Teiche in Wald und Park, verschlungene Wege im „Schotengrund“ sowie das bunte Treiben im Gasthaus Fischhaus ließen das Kinderherz höherschlagen. Jeder Tag barg vielfältige Erlebnisse und das Wort Langeweile war in meinem Sprachschatz nicht vorhanden. Der Weg in städtische Gefilde jedenfalls war eben mit dem beschriebenen Fußmarsch verbunden. Die Haltestelle der sogenannten „Hecht-Straßenbahn“ der Linie 11 lag damals wie heute an der Bautzner Straße. Den jüngeren Lesern gegenüber ist zu erwähnen, dass zu jener Zeit das „Automobil“ durchaus nicht zum allgemeinen Lebensstandard gehörte. Also waren „Schusters Rappen“, Fahrrad und die öffentlichen Verkehrsmittel angesagt. Letzteres war die erwähnte Linie 11, die die Fahrgäste zum einen in Richtung Platz der Einheit, dem heutigen Albertplatz, im Zentrum der Dresdner Neustadt einsammelte. Zum anderen war die Fahrt zum Stadtteil Weißer Hirsch und darüber hinaus nach Bühlau möglich. Wenn ich mich recht erinnere, war zu Fahrtbeginn ein Obolus von 20 Pfennig für Erwachsene und 10 Pfennig für Kinder zu zahlen. Nun kommen wir endlich dem Körnerplatz näher. Die Reise, die mit der Fahrt im „Hecht“ begann, musste nicht unbedingt am Weißen Hirsch enden. Natürlich waren hier, der nach wie vor beliebten Wohn- und Einkaufsgegend „oben“ am Elbhang, für Kinderaugen durchaus lohnenswerte Ziele, wie zum Beispiel in Form eines Spielzeugladens, zu finden. Und die Chance, einen der kleinen Gummi-Indianer zu ergattern, nämlich dann, wenn die Mutter sich erweichen ließ, kompensierten die Beschwerlichkeiten von Fußmarsch, Warten an der Haltestelle, Langeweile auf harten Straßenbahn-Holzsitzbänken und für das kindliche Empfinden endlos scheinenden Einkaufs(tor)touren. Oft führte der Weg nach dem Erreichen des Weißen Hirsch auf der anderen Seite wieder hinab ins Tal der Elbe. Dafür stand die sogenannte Standseilbahn zur Verfügung, die uns zum Körnerplatz beförderte. Der Körnerplatz ist, schauen wir flussabwärts, am rechten Ufer der Elbe auf Loschwitzer Seite gelegen. Die Verbindung zum linken Elbufer nach Blasewitz bildet die Loschwitzer Brücke, das „Blaue Wunder“. In der Nähe des Körnerplatzes finden wir neben der Talstation der Standseilbahn ebenfalls den Bahnhof der Schwebebahn, die Kirche von Loschwitz und viele sehenswerte Gebäude, Läden und Wirtschaften. Eine Augenweide ist mittlerweile die Künstlerszene, die sich mit Galerien, Buchläden und anderem Gewerbe etabliert hat. Am linken Ufer befindet sich der Schillerplatz, der vielleicht für den Touristen bekanntere Ort am Blauen Wunder, mit dem Restaurant Schillergarten und der Gustel von Blasewitz. Aber dazu kommen wir noch. Also „guggen“ (schauen) wir mal, wer hier unterwegs war und ist und was es sonst noch kennenzulernen gibt.
Aktualisiert: 2020-03-09
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