Blick auf Andere von Abbé Pierre, Marklofsky,  Kerstin, Rousseau,  Jean

Blick auf Andere

Der ABBÉ PIERRE FÜR EINE GERECHTERE WELT

In der allgemeinen Vorstellung (in Frankreich) ist der Abbé Pierre die „Auferstehung des Guten“. Ein solches Bild von ihm entstand nach seinem Radioaufruf am 1. Februar 1954. Sein Name wird zumeist mit der Emmaus-Bewegung in Verbindung gebracht, die er 1949 initiiert hatte. Jeder (in Frankreich) weiß um sein ununterbrochenes Engagement, über ein halbes Jahrhundert hinweg. Seit der Nachkriegszeit bis zu seinem letzten Atemzug setzte er sich für die Obdachlosen und für Wohnraum für die Ärmsten der Armen sowie, weiterführend, die von der Gesellschaft Ausgegrenzten ein. Die Medien und eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Veröffentlichungen haben ihm in erster Linie zur Bekanntheit seiner Person in der Öffentlichkeit verholfen … Lange war er der beliebteste Franzose. Komplizenhaft und mit vollem Bewusstsein hat er mitgespielt. Er war doch ein schlauer Stratege und vertraut mit Aufsehen erregenden Aktionen. Der Hang unserer Zeit zur Prophetensuche und zur gierigen Vereinnahmung nutzbringender Persönlichkeiten für das gute Gewissen aller Gesellschaftsschichten schien der Idoldarstellung letztendlich Recht zu geben. Als der Abbé Pierre im Januar 2007 verstarb, war die Heiligsprechung angedacht.
Neuere Arbeiten wie auch die persönlichen Aufzeichnungen des Abbé Pierre zeigen jedoch, dass es trotz seines ungewöhnlichen, unglaublichen, manchmal gar sonderbaren Werdeganges, der viele seiner Zeitgenossen geprägt hat, keinerlei Notwendigkeit für eine goldene Legende gibt, die ihn als historische Person hervorhebt. Seine engagierte Teilnahme an den bedeutendsten Ereignissen und Debatten des 20. Jahrhunderts beleuchtet natürlich ein außergewöhnliches Leben. Sie zeugt vor allem von einem ungewöhnlichen Willen und einer bemerkenswerten Fähigkeit, mit sich selbst und mit seinesgleichen in Einklang zu leben, die Wahrheit auszusprechen und Entrüstung auszulösen, um eine bessere Welt herbeizuführen. Viele können ihre Überwältigung, ihre persönliche Wandlung durch die Begegnung mit dem Abbé Pierre und dadurch, dass sie ihm folgten, bezeugen. Es ist tatsächlich die vollkommene, radikale, mit einer entwaffnenden Menschlichkeit einhergehende Hingabe seiner selbst, die den Abbé Pierre so anziehend macht und einen wunderbaren Tatendrang auslöst. Sie gab und gibt immer noch Tausenden Männern und Frauen in der ganzen Welt Hoffnung. Schlussendlich kann die Versuchung, einen Heiligen zu erforschen, nicht bestehen vor der erlebten Faszination für einen Menschen, der voller Leichtigkeit mit den Vergessenen seiner Zeit lebt, während er seine Nähe zum Universellen unter Beweis stellt. Es ist der Mensch in seiner Einzigartigkeit und seiner Aufrichtigkeit, in selten zu findendem Einklang seiner Worte mit seinen Taten. Nur er selbst ist maßgebend, ihm kann man zustimmen und nachfolgen, nicht seinem Idol.
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Mit einem starken Charakter, aber einer äußersten Empfindsamkeit ausgestattet, tief geprägt von einer familiären Atmosphäre voller Zuneigung und christlichem Glauben, von franziskanischer Offenbarung gepackt, so stürzt sich der Abbé Pierre mit Herz und Seele ins 20. Jahrhundert hinein, um den Unscheinbarsten wie den Mächtigsten entgegenzutreten. Er scheut keine Auseinandersetzung. Von Anfang an nimmt er seine Erfahrungen im Kloster, die Résistance im Krieg, sein Abgeordnetenmandat zu Beginn der Trente Glorieuses, den Pazifismus und andere, unerwartete Erlebnisse als Begegnungen, die ihm das Leben bietet. Seine Entscheidungen dabei bringen seine Einzigartigkeit und sein erstaunliches Eins-Sein an den Tag.
Als einfacher Priester, der Mönch gewesen war, wird der Abbé Pierre oft genug wiederholen, dass er als Mensch der Tat nur existieren konnte durch die Kraft des Glaubens, die er aus Meditation und täglichem Gebet schöpfte. Sein weltliches Engagement kann nicht unabhängig von seinen tiefen christlichen Wurzeln verstanden und ausgelegt werden. Dieser unverbrüchliche Glaube führt den Abbé Pierre zu den lebendigsten Fragen und manchmal in die tiefste Nacht, in mystische Begeisterungen hinein, und diesen spricht er auch in der Öffentlichkeit aus.
Tatsächlich nimmt er das Leben selbst, die leidende Menschheit ernst, als Idealist und Glaubensmann, leidenschaftlich bis hin zur Rigorosität. Auf jeden Fall ist er ein Extremist. Er selbst würde sagen: Extremist der Liebe.
Prägen wird ihn sein eigener Wille, das Evangelium in seiner höchsten Vollkommenheit zu leben, ununterbrochen die Gerechtigkeit zu suchen und von der Liebe für die anderen erfüllt zu sein: Dem wird er treu sein und sich in jedem Augenblick seines Lebens widmen. Die Begegnungen und Ereignisse der Geschichte bieten ihm Raum für seinen grenzenlosen menschlichen und politischen Einsatz. So öffnet er als Gemeindepfarrer während des Krieges den Widerständlern seine Tür, hilft Juden bei der Flucht, stattet Leute mit falschen Papieren aus, schreibt und verbreitet eine Untergrund-Publikation, organisiert Partisanenkämpfe, dient als Verbindungsagent …
Die Résistance hat oft darauf vorbereitet, Verantwortung zu übernehmen. Und als dann das Ganze neu zu gestalten ist, nimmt er seinen Teil der Verantwortung wahr und ein Abgeordnetenmandat an. In solchen intensiven Momenten beginnt der Abbé Pierre, seinen Horizont und sein Weltkonzept zu erweitern. Indem er sich 1948 am Entwurf der Menschenrechtskonventionen beteiligte, sich gegen die Todesstrafe und den Kernwaffenkrieg und für die Anerkennung von Wehrdienstverweigerung und für die Weltbürgerbewegung einsetzte, manchmal recht derb mit den Politikern und den Institutionen umgehend, will der Abbé Pierre an der Geburt einer neuen Welt mitwirken, die auf gemeinsamem Eigentum aufbaut. Er gehört jener Generation an, die ernsthaft und weltweit ihre Lektionen aus der Geschichte lernt und diese vor allem nie mehr vergisst. Der Abbé Pierre strahlt inmitten einer unglaublichen, Hoffnung bringenden Fülle von Initiativen und bleibt dabei doch wach für Gefahren, die sich bereits ankündigen. Gleichzeitig öffnet ihm das Experiment Emmaus – „das, was sich uns zutrug“ – in das er all seine Kräfte bis hin zur Selbstaufgabe steckte, die Augen für das „Elend der Welt“ und für eine Art Ohnmacht, die er nicht tolerieren kann. In selbst auferlegter Entsagung und so nah wie möglich am Gedanken des Evangeliums stülpt er so das Konzept der Barmherzigkeit und des Beistands um: Für ihn sind Mitgefühl und Teilen untrennbar verbunden mit der Suche nach Gerechtigkeit auf politischer Ebene, seine Erfahrungen ergänzen und legitimieren sich gegenseitig. Der Abbé macht daraus ein Zweiergespann: Während er ohne Genehmigung Notunterkünfte baut und zum Hausbesetzen aufruft, mobilisiert er die Bürger und konfrontiert die Abgeordneten und die Regierenden mit dem Problem des sozialen Wohnungsbaus. Der Abbé Pierre wagt das nie vorher dagewesene Abenteuer, zusammen mit den gemeinhin als „Taugenichtse“ Abgetanen gegen die Armut zu kämpfen. Daran lernt er selbst über Jahre hinweg und schafft daraus eine persönliche Leitlinie und einen für alle und überall anwendbaren politischen Hebel. Die revolutionäre Seite einer „an Ort und Stelle“ geborenen Methode, wo die Effizienz und die Sinnstiftung sich versöhnlich begegnen, wird dauerhaft das öffentliche Handeln und die Organisation der Zivilgesellschaft mitbestimmen; sie wird die verschiedensten Akteure in der ganzen Welt erhellen und ermutigen, Menschen, die sich der Zwangsläufigkeit verweigern.
Später wird er gegen den Hunger weltweit kämpfen und dabei weiter den Ärmsten beistehen, für die Aufnahme von Menschen ohne Aufenthaltspapiere sorgen und gleichzeitig das Überdenken der Migrationspolitik fordern, er wird sich für Eingliederung und Arbeit für alle, für den Fairen Handel und solidarische Wirtschaft einsetzen, hingegen großformatige Entlassungen, Waffenhandel, die alles dominierende Finanzpolitik anprangern.
Der Abbé Pierre wird sich in zahlreiche Kämpfe des 20. Jahrhunderts stürzen, und sobald die Menschlichkeit mit Füßen getreten und gedemütigt wird, lassen ihn wenige Themen unberührt oder den Wunsch, sie anzupacken, was immer auch geschehe.
Außer der Aktivität, die im Herzen von Emmaus und anderer Organisationen weiterlebt, bleibt auch die Inspiration durch sein Beispiel unanfechtbar und aufrüttelnd bestehen. Die Schriften des Abbé Pierre, manche seiner feurigen und ungestümen Formulierungen haben immer noch dieselbe Schlagkraft. Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, seiner schreienden Ungerechtigkeiten, der Erinnerung an das Schlimmste, die zerstörerischen Verbrechen und mörderischen Exzesse, mit Blick auf die unerhörten Leiden, an die keine Macht der Worte heranreicht, all dem gegenüber bleiben die Reflexionen und politischen Ermahnungen des Abbé Pierre solide und aktuelle Wegweiser. Denn sie sind mit klarsichtiger Analyse in präzisen Gedankengängen gemacht und voll von absoluter Großzügigkeit. Sie stellen unsere Gesellschaft und uns vor ernstzunehmende und notwendige Entscheidungen.
Der Abbé Pierre wendet sich an alle, an die Bescheidensten wie die am höchsten Gestellten. Dafür zieht er alle Register und benutzt seinen gesunden Menschenverstand, seinen Humor oder auch Spott, er prangert an oder dramatisiert, er lässt sich beflügeln oder in die Verzweiflung treiben. Es überrascht nicht, aus dem Mund von jemandem, der sich dem Kampf gegen die Armut gewidmet hat, gegen alle Arten von Armut, zu hören: „Nötiger noch als die Mittel zum Leben brauchen wir Sinn zum Leben.“
Der Abbé Pierre ist gemeinsam mit seinen Compagnons 1949 Lumpensammler geworden, um seiner ersten Emmaus-Gemeinschaft das Überleben zu sichern und um den Bau seiner Notunterkünfte für Obdachlose der Nachkriegszeit weiterbetreiben zu können. Wie alle Lumpensammler, die dieses Namens würdig sind, hat er auch kleinste Fetzchen gesammelt, ja angehäuft, die in seinen Augen auch nur irgendeinen Wert hatten und in einem „zweiten Leben“ wiederverwendet werden konnten. So hat er auch nie nachgelassen, eine beachtliche, ja extravagante Menge an Dokumenten, schriftlichen Notizen, Erinnerungen, Bildern, Zeugnissen jeder Art zu sammeln. Mit welchen Zielen? Nachdenken, ein Gedankengebäude bauen, Beweise zusammentragen, um zu bewegen, zu überzeugen und zu provozieren; konkrete Beispiele vorführen, um Veränderungen herbeizuführen; Zeugnis ablegen und bei jeder Gelegenheit das Wort ergreifen.
Viel hat der Abbé Pierre geschrieben, unablässig recycelt er seine Gedanken, feilt er seine Entdeckungen aus, organisiert er seinen Angriffsplan. Er entwickelt Ideen und illustriert sie freigiebig mit erlebten Dramen und beobachteten Widersprüchen viel mehr als mit Theorien. Als Begründer, Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Faim et soif („Hunger und Durst“. Die erste Ausgabe erschien im Mai 1954) und indem er die besten Schreiber seiner Zeit versammelt, entwickelt der Abbé Pierre sein Denken mit dem einzigen Ziel, Alarm zu schlagen, sich von Konventionen und der Lüge zu lösen, althergebrachte Ideen zu bekämpfen, Infragestellungen anzuregen, einen anderen Blick auf die Welt zu fordern und sein Publikum im Herzen zu berühren. Die Publikation, allein oder in Zusammenarbeit, von Büchern mit Gedanken, Reflexionen, Gesprächen sind nur eine Fortführung dieser Schreibarbeit und Gedankengestaltung, der sich der Abbé Pierre zu jedem Zeitpunkt des Tages oder der Nacht, in seinem Büro, auf der Abgeordnetenbank, im Flugzeug oder in der Wüste … verschreibt.
Ob vor einem kleinen Kreis ihm Nahestehender, vor einem Regierungschef oder einer Versammlung von 10 000 Personen, vor einem Mikrofon oder einer Kamera, überall ist der Abbé Pierre entspannt und hört nur auf sein Herz, das er jenem oder jenen hinhält, die er überzeugen und schließlich für sich gewinnen will.
Die einzige Absicht dieses Buches besteht darin, die tollkühne Weisheit des Abbé Pierre bekanntzumachen, denn sie passt perfekt auf die Welt von heute. Sie ist gleichzeitig nah am Abgrund und unglaublich und wundervoll fantastisch, sie dürstet nach Hoffnung.
Jean Rousseau
(Präsident von Emmaüs International)

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