Stimmen hinter dem Hügel

Stimmen hinter dem Hügel von Ferber,  Christoph, Kim,  Sun Young, Nuglisch,  David, Samojlow,  David, Wendland,  Holger
Das Geburts- und das Sterbejahr (1920 bzw. 1990) des russischen Dichters David Samojlow (eigentlich David Samujlowitsch Kaufman) fallen ziemlich genau mit Beginn und Ende der Sowjetunion zusammen, trotzdem wäre für ihn die Bezeichnung „sowjetischer Dichter“ ebenso falsch wie diejenige „jüdischer Dichter russischer Sprache“. Samojlow ist seinem ganzen Wesen nach Russe, seine Heimat ist neben der Weite der russischen Landschaft vor allem die russische Sprache, denn dass ihm, der zeitlebens von einer tiefen humanitären Gesinnung geprägt war (wovon sein Werk vielfach Zeugnis ablegt), die Sowjetunion keine Heimat sein konnte, ist ebenso verständlich wie seine Entscheidung, nicht nach Israel auszuwandern, als sich ihm in den siebziger Jahren die Möglichkeit geboten hat. Samojlow ist den Weg der inneren Emigration gegangen, den Weg der Heimatlosigkeit in einer Heimat, die er, je geknechteter sie war, umso inniger liebte. Und damit teilt er das Schicksal vieler, unzähliger, ja von Millionen Russen. Es ist denn auch kein Zufall, dass ein anderer „Urrusse“, Alexander Solschenizyn, der Russland nur unter Zwang verließ, sich mit dem Dichter und Menschen intensiv beschäftigt und ihm im Jahre 2003 in der Zeitschrift „Nowij mir“ einen ausführlichen Aufsatz gewidmet hat. Diesem Umstand sind einige der nachfolgenden Gedanken und Zitate zu verdanken. David Samojlow wurde in Moskau geboren; 1938 begann er ein Studium an der Philosophischen Fakultät. 1941 wurde er als gemeiner Soldat eingezogen, 1942 erlitt er eine Verwundung: im Krieg, der tiefe seelische Wunden hinterließ, die bestimmt einer der Gründe für seine pessimistische Geisteshaltung waren, hat er u.a. auch als Mitarbeiter einer Garnisonszeitung gearbeitet. Bereits früh begann er Gedichte zu schreiben, veröffentlichte aber während Jahren nur Übersetzungen, vorwiegend aus dem Tschechischen und Polnischen.1956 konnte er einen ersten Gedichtband drucken lassen, der Gedichte aus zwei Jahrzehnten enthielt. In ihnen zeigt sich, nach anfänglichem Experimentieren, jene klassische Grundhaltung, die sein ganzes lyrisches Werk kennzeichnen wird. Samojlows Vers ist aber nur vordergründig klassisch, seine Modernität betrifft eine Art (jüdischen) Schalk, eine (auch inhaltliche) Vertracktheit, die sich u.a. in seinen ungewöhnlichen unreinen Reimen ausdrückt, welche Ausdruck eines enorm entwickelten Lautempfindens sind. Gelegentlich zeigt sich dieses schalkhafte Spiel mit den klassischen Formen auch in einer Art metrischer „Zerrupftheit“, wie Alexander Solschenyzin schreibt; d.h. die Versakzente hüpfen gerne aus dem Rahmen und geben dem doch meist klaren Metrum eine unverhoffte Lebendigkeit, eine Art ironische Verzerrtheit. Wären Samojlows Verse avantgardistischer gewesen, hätte er zu Lebzeiten im Ausland bestimmt einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht. Aber auch seine bescheidene, stille Haltung, seine Scheu vor dem Rampenlicht, seine zurückhaltende, ganz in sich gekehrte Art waren schuld daran, dass er nicht stärker wahrgenommen wurde. Samojlow hat nie viel Aufsehen um seine Person gemacht. Seine spätere Berühmtheit und eine gewisse Popularität in Russland verdankt er seinen Landsleuten und Leidensgenossen, die das Unaussprechliche in den Erfahrungen der meisten Russen, welche im „verfluchten 20. Jahrhundert“ lebten, in seinen kurzen, eher unprätentiösen Gedichten aufund nachgespürt haben: Wie ein Espenblatt leicht Legt sich der Herbst Mir auf die Schulter ... Allein, das ist später. Die Grafik der Landschaft, Die schwarzen Linien In der leeren Luft ... Allein, das ist später. Was war nur am Anfang? Trauer, unsägliche Trauer Trat mir ins Haus ... Nein! Das ist später. Ein nachhaltiges, enigmatisches, unpolitisches Gedicht: Trauer, die keinen Anfang und kein Ende hat, aber doch einen Anfang hatte, nur wann? – da sich nur Trauer an Trauer reiht ... Aber könnte dies nicht auch ein gesellschafspolitisches Gedicht sein, nicht zuletzt, da es ihm gelingt, von so vielen Lesern, von einer ganzen Gesellschaft verinnerlicht zu werden? Denn der Autor schreibt da einmal pointiert: „Der russische Vers ist nichts als bürgerliches Bewusstsein“, wobei der unübersetzbare Terminus grazhdanstwennost mehr als nur bürgerliches, gesellschaftliches, staatliches Bewusstsein (oder auch Zivilcourage) bedeutet. Solschenizyn glaubt, Samojlow habe es „geflissentlich vermieden“ diesem Grundsatz nachzuleben, bzw. nachzuschreiben. Ich würde dies vorsichtiger formulieren: Sogar Solschenizyn kann manchen Grund anführen, der den Lyriker entlastet. Der wichtigste ist bestimmt Samojlows introvertiertes, schwermütiges Naturell, das seine Gedichte zu ei ner „Lyrik fast auswegloser, kompakte Einsamkeit“ werden lässt. Gedanken über das Ich, über die Natur überwiegen in seiner Lyrik, man spürt die Schwierigkeit, zensurfähige Themen zu finden; er weicht aus, in die Vergangenheit, in Wortspielereien; Samojlows Gedichten spürt man oft an, dass sie ihm, dem nicht immer inspirierten Autor, Mühe bereitet haben, was Solschenyzin dazu führt, vom „Stempel einer künstlichen Konstruiertheit“ zu sprechen, den eine ganze Reihe von Gedichten aufgedrückt bekommen habe. In einer 1995 erschienenen Tagebuchaufzeichnung aus den siebziger Jahren liest man denn auch: „Mühsam schleppe ich Verse durch mein ganzes Leben, dränge sie gleichsam durch ein Nadelöhr, und wenn ich sie einmal durchgedrängt habe, bin ich erschöpft und verliere jedes Interesse an ihnen. Die verausgabte Kraft ist der Vollkommenheit nicht zuträglich.“ Vielleicht ist es aber gerade dieselbe unsägliche Mühe des Autors, die immer wieder kleine, vollendete Meisterwerke hervorbringt, Juwele von bestürzender, zauberhafter Tiefe, lakonische, besonnene, ehrliche, fast kindlich intonierte Gedichte. Aber nicht nur Klagen über die schöpferische Unlust, sondern auch Klagen über finanzielle, häusliche, familiäre Sorgen, Wohnungsprobleme, über die nicht zu unterschätzende Sorge, als vergleichsweise unabhängiger, jüdischer, von der Sowjetmacht gerade noch geduldeter Dichter zu überleben, häufen sich in seinen Tagebüchern und finden sich – indirekt – auch in vielen Gedichten. So ist es denn auch verständlich, dass er es Solschenizyn nicht verzeihen will, wenn dieser (d.h. eine Figur aus der Krebsstation ) behauptet, den (sowjetischen) Dichtern gehe es finanziell zu gut. „Was haben Sie nur gegen uns?“, meinte er 1971 bei einem Treffen mit dem Dissidenten. Daraus wird ersichtlich, dass er sich doch irgendwie mit dem ungeliebten Staat identifiziert, seine Kollegen zu verteidigen sucht, da er eben ihre äußerst schwierige Situation aus eigener Erfahrung kennt und sich mit ihnen solidarisch fühlt. Nun, er hält sich mit öffentlichen Äußerungen zurück, hat an den Kongressen des Schriftstellerverbandes nicht teilgenommen und auch nie öffentliche Ämter bekleidet, was für einen in der Sowjetunion doch recht populären Dichter etwas heißen will. Zeitweise verkehrt er mit Andrej Sacharow, hat aber auch Angst, dass man ihm deswegen „seine Stadtwohnung wegnimmt“. Dieses ständige Sich-Ducken-Müssen, dieses Lavieren, dieses Nicht-Wissen-woran- man-ist hat ihn sicher jahrzehntelang zermürbt, bis er endlich im Haus der Schriftsteller in Moskau eine Wohnung bekam. Aber dann waren es die Altersbeschwerden, Familienzwiste, Sehprobleme, die seinen Alltag beherrschten. Und auch eine Art moralische oder „sittliche“ Depression, wie er sie nennt, d.h. traurig zu sein über all die Lügen, die unvermeidlich waren, um in einem totalitären Staat zu überleben, vieles zu spät erkannt zu haben: „Neige dein Ohr nicht voller Vertrauen / jenen, die zu spät sehend werden“, heißt es in einem Gedicht von 1974; und in einem Gedicht aus den frühen achtziger Jahren will er für seine Lügen Abbitte leisten: Allein, dass ich die Lüge Im Leben nicht vermied, Dafür lass, Gott, mich bü.en, Bestraf mich, Gott, dafür! Unter diesen späten Gedichten, die in den Bänden „Stimmen hinter den Hügeln“ (1985) und „Die hohle Hand“ (1987) vereint wurden, finden sich viele, die zu seinen besten gehören. Sie sind im Allgemeinen weniger gequält als die früheren, sie fließen irgendwie leichter, als hätte der Autor aufgehört zu kämpfen, als atme er gelöster, freier. Reines Naturerleben und unverkrampfte Ironie wechseln sich ab. Es ist nicht notwendig zu wissen, dass das Leben nichtig ist, die Hauptsache ist, es im Augenblick zu leben, flüchtig und geheimnisvoll, wie es eben ist: Zu wissen, dass das Leben nichtig, Kann nicht der Sinn des Lebens sein, Ist doch mein Leben jetzt so flüchtig, So augenblicklich, so geheim! ... Das Ende: Einswerden mit der Natur, sich in ihr auflösen, verstummen, sorglos zerstieben: Ein kleiner Vogel sang In der silbernen Morgenröte, So vernünftig und traurig Wie eine frierende Seele. Die Sonne ging auf. Der Vogel Verstummte. Es spielte Der Wind. Und ein Löwenzahn Trocknete sich und zerstob sorglos. C h r i s t o p h F e r b e r
Aktualisiert: 2022-12-16
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